Der Brief an die Hebräer

Eine Einleitung

(Fortsetzung von Seite 39)

Das Fehlen eines Hinweises auf die Wahrheit von dem einen Leib mit Christus als Haupt mag von einigen als Anzeichen dafür verstanden werden, dass jemand anders als Paulus diesen Brief geschrieben haben könnte. Aber diese Folgerung ist unbegründet. Denn obwohl Paulus allein das Geheimnis von Christus und der Versammlung entwickelt, geschieht das doch nur in den Briefen an die Epheser und die Kolosser sowie noch im ersten Korintherbrief in praktischer Hinsicht und im Römerbrief anspielungsweise. In seinen übrigen Briefen finden wir den „Leib“ nicht häufiger als im Hebräerbrief, und zwar ebenso deutlich vom Heiligen Geist bestimmt wie in den Briefen, die umfassend darüber reden.

Unsere persönlichen Beziehungen sind nicht weniger wichtig als unsere körperschaftlichen. Der göttliche Plan bestimmt die eingeführten Themen ebenso wie ihre angemessene Behandlung. Jeder Brief oder jedes Buch der Schrift ist vollkommen für den Zweck, den Gott beabsichtigte, als Er den einzelnen Schreiber inspirierte. Der Hauptgegenstand des Hebräerbriefes ist das Priestertum Christi mit seiner notwendigen Grundlage, mit allem, was dazugehört, und den entsprechenden Ergebnissen. Und da das die Gläubigen persönlich angeht, konnte der „eine Leib“ Christi nicht gut in diesen Gesichtskreis fallen, wenn es eine göttlich inspirierte Ausarbeitung war, ob von Paulus oder irgendeinem anderen verfasst. Der Kernpunkt der Lehre ist hier nicht, dass wir eins sind mit Ihm als Glieder Seines Leibes, sondern dass Er vor dem Angesicht Gottes erscheint für uns. Auf immerdar bleibend, mit Seinem unveränderlichen Priestertum, vermag Er diejenigen völlig zu erretten, die durch Ihn Gott nahen, indem Er allezeit lebt, um sich für sie zu verwenden. Es sind dieselben Menschen, die auch den Leib Christi darstellen; aber die Verbindungen sind hier völlig eigenständig und stehen nur in Beziehung miteinander durch die Fülle Christi.

Manche haben gefragt, warum Paulus, wenn er der Schreiber wäre, denn nicht am Anfang seinen Namen genannt hätte. Aber diese Eigentümlichkeit betrifft jeden anderen Schreiber mindestens ebenso. Sie würde eigentlich noch mehr befremden bei jemand, der keinen anderen Brief geschrieben hätte. Gesetzt aber den Fall, dass der große Apostel ihn geschrieben hat, dann haben wir einen Parallelfall im ersten Brief von Johannes, der dort auch nicht seinen Namen voranstellt, obwohl er sich in den beiden kleineren Briefen als „der Älteste“ vorstellt, und zwar in einer für ihn unverkennbaren Weise. In der Offenbarung dagegen, wo der Gegenstand eine Schreibweise erfordert, die völlig verschieden ist von der seines Evangeliums oder seiner Briefe, erscheint sein Name dennoch in der Einleitung und am Schluss. Ist das alles nicht offensichtlich so, wie es sein muss?

Nehmen wir nun an, dass Paulus den Brief an die Hebräer geschrieben hat, dann ist es nicht schwer, gewichtige Gründe dafür zu nennen, dass er nicht seinen eigenen Namen und seine apostolische Autorität in den Vordergrund stellt, sondern die alttestamentlichen Schriften in einer Weise behandelt, wie sie göttliches Licht und feste Überzeugung allen denen vermitteln mussten, die sie vor Gott erwägen. Dass die hebräischen Christen sogar in frühen Tagen voreingenommen waren und zum Disputieren neigten, ist jedem klar, der Apostelgeschichte 11, 15 und 21 liest, um nicht mehr Stellen zu nennen. Sie mussten zwangsläufig merken, dass die Lehre des Apostels eine Tiefe und Höhe hatte und derart umfassend war, dass es solchen, die so lange in jüdischen Bindungen gelebt hatten, schwer wurde, ihm zu folgen. Er war der Apostel für die Unbeschnittenen, und das war an sich schon eine große Belastungsprobe für gewöhnliche Geister ihrer Prägung; das können wir sogar aus dem Verhalten der Apostel Petrus und Barnabas schließen, so sehr diese persönlich von Gott den Nationen gegenüber bevorrechtigt waren. Deshalb tritt der Schreiber – angenommen, es sei Paulus – mit dem größten Feingefühl und Takt an sie heran, wie es seine brennende Liebe zu seinen Brüdern ihm gebieten musste – seinen Brüdern in doppeltem Sinn, sowohl nach dem Fleisch als jetzt auch nach dem Geist. Er wird wie ein Jude, um die Juden zu gewinnen; und denen, die unter dem Gesetz waren, wird er wie einer unter Gesetz, obwohl er selbst nicht unter Gesetz war, um die unter Gesetz zu gewinnen. Das Weglassen seines Namens war damit am Ausgangspunkt in seinem Fall besonders angebracht, mehr als bei jedem anderen Menschen.

Ein weiterer Grund für das Weglassen ergibt sich aus der ungewöhnlichen Aufgabe, die vor ihm lag. Die Kraft der Botschaft lag darin, dass sie von vornherein und gänzlich mit der Autorität Gottes zu ihnen kam. Und für jüdische Gläubige konnte das durch keine andere Ausdrucksweise erreicht werden als durch die hier verwendete. „Nachdem Gott vielfältig und auf vielerlei Weise ehemals zu den Vätern geredet hat in den Propheten, hat er am Ende dieser Tage zu uns geredet in einem [oder: im] Sohn, den er gesetzt hat zum Erben aller Dinge, durch den er auch die Welten gemacht hat“ (Heb 1,1.2). Wie abschwächend würde es gewirkt haben, hätte der Apostel in einem solchen Zusammenhang sich selbst vorgestellt! Sogar wir, die zu den Nationen gehörten und zur Versammlung gehören, würden es in beiderlei Sinn unangebracht finden, im einen Fall geschmacklos und im anderen ungeistlich. Für den hebräischen Christen konnte keine Methode so eindrucksvoll, willkommen und gebieterisch sein. Unmöglich, einer Aussage auszuweichen oder zu widersprechen, die ganz augenscheinlich die Gedanken Gottes in sich trug, wie sie in Seinem Wort offenbart sind – jedenfalls für einen Gläubigen.

(Wird fortgesetzt) W. K.

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2007, Heft 3, Seite 74

Bibelstellen: Hebr