Der Jünger, den Jesus liebte

Jeder wahre Gläubige liebt den Herrn. Als Petrus zu Gläubigen über den Herrn spricht, kann er sagen: „… den ihr, obgleich ihr ihn nicht gesehen habt, liebt.“ In Gegenwart des stolzen Pharisäers konnte der Herr von der Frau, die Seine Füße küsste, sagen: „Sie hat viel geliebt.“ Die Schrift erkennt also diese Liebe an, und der Herr erfreut sich daran. Darüber hinaus bringt die Liebe zum Herrn die Verheißung vieler Segnungen mit sich, nicht zuletzt die besondere Verwirklichung der Gegenwart des Herrn und des Vaters (Joh 14,21-23).

Und doch nimmt die Schrift Notiz davon, dass die Liebe zum Herrn bei verschiedenen Jüngern und zu verschiedenen Gelegenheiten in sehr unterschiedlichem Maß zu finden ist. Die Liebe von Maria von Bethanien, die die Füße des Herrn salbte, war sicherlich größer, als die der entrüsteten Jünger, die sagten: „Wozu diese Verschwendung?“ Die Liebe von Maria Magdalene, die „draußen am Grab stand und weinte“, übertraf bei dieser Gelegenheit die Liebe der Jünger, die „wieder heimgingen“.

Zudem geht es mit unserer Liebe auf und ab. Unter Druck kann „die Liebe der Vielen erkalten“. Angesichts der Verlockungen der Welt kann die Liebe verblassen wie im Fall eines Gläubigen, von dem Paulus sagen muss, er „hat mich verlassen, da er den jetzigen Zeitlauf lieb gewonnen hat.“

Wenn auch die Liebe zum Herrn in Seinen Augen sehr wertvoll ist, und die Gläubigen sie schätzen und sich danach ausstrecken sollten, sollte uns doch klar sein, dass wir uns nicht auf eine Liebe stützen können, die so dem Wechsel unterworfen ist. Die Liebe, in der wir allein ruhen können, muss die Liebe sein, die keinen Wechsel kennt – die Liebe, die bleibt – die Liebe Christi zu den Seinen.

Die Erfahrung und der Genuss der Liebe Christi sind es, die unsere Liebe zu Ihm aufwecken. „Wir lieben ihn“, sagt der Apostel Johannes, „weil er uns zuerst geliebt hat.“ Daher wird unsere Liebe zu Ihm dem Maß entsprechen, in dem wir Seine Liebe zu uns erkannt haben. Wollen wir also den Herrn mit mehr Einfalt des Herzens lieben, dann lasst uns nicht auf uns selbst und unsere Liebe zu Ihm sehen, sondern danach streben, uns an Seiner Liebe zu uns zu erfreuen.

Die Wirkung auf eine Seele, die sich an der Liebe Christi erfreut, wird uns so herrlich vorgestellt in Verbindung mit dem Apostel Johannes in den letzten Augenblicken des Lebens des Herrn. Im Gegensatz dazu zeigen uns die gleichen Szenen die notvollen Ergebnisse des Vertrauens auf die eigene Liebe zum Herrn im Fall des Apostels Petrus. Beide Apostel liebten den Herrn mit einer echten und tiefen Zuneigung, mehr als andere, denn sie hatten alles verlassen und waren Ihm nachgefolgt. Ein Jünger vertraute jedoch auf seine Liebe zum Herrn, während der andere in der Liebe des Herrn zu ihm ruhte. Das ist der bedeutende Unterschied zwischen diesen beiden Männern, die man in diesen letzten Szenen so oft eng beieinander findet.

Als der Herr, in Seiner wunderbaren Gnade, die Füße der Jünger wäscht, fragt Petrus: „Herr, du wäschst mir die Füße?“ Und als er lernt, dass man ohne die Fußwaschung kein Teil mit Christus haben kann, ruft er sofort in brennender Liebe aus: „Herr, nicht nur meine Füße allein, sondern auch die Hände und das Haupt.“ Ein wenig später sagt er mit aufrichtiger Liebe: „Herr, mit dir bin ich bereit, auch ins Gefängnis und in den Tod zu gehen“, und weiter: „Wenn alle an dir Anstoß nehmen werden, ich werde niemals Anstoß nehmen.“ Und dann, bei der Überlieferung des Herrn, zog Petrus in seiner glühenden Liebe zum Herrn das Schwert, um den Meister zu verteidigen. Mit Worten und Taten scheint er sagen zu wollen: „Ich bin der Mann, der den Herrn liebt.“ – Im Gegensatz zu Petrus sagt Johannes sozusagen: „Ich bin der Mann, den Jesus liebt“, denn fünfmal beschreibt er sich in diesen letzten Szenen als den „Jünger, den Jesus liebte.“ Wirklich wunderbar, wenn Seine Liebe so an uns wirken konnte, dass wir Ihn lieben, aber weit wunderbarer, dass Er uns liebt. An dieser wunderbaren Liebe erfreute sich Johannes, und in dieser grenzenlosen Liebe ruhte er.

Der Obersaal (Johannes 13,21-25)

Die erste Gelegenheit, bei der Johannes als der „Jünger, den Jesus liebte“ bezeichnet wird, ist im Obersaal, wie in Johannes 13 beschrieben wird. Wie geht uns diese Szene zu Herzen! Da ist Jesus, mit einer nie endenden Liebe, denn „da er die Seinen, die in der Welt waren, geliebt hatte, liebte er sie bis ans Ende.“ Da ist Johannes, der sich erfreut an der Liebe Christi, seinen Kopf in den Schoß Jesu legt und sich selbst als den Jünger beschreibt, den Jesus liebte. Da ist Petrus, mit echter und brennender Liebe für den Herrn, auf die er leider vertraut, anstatt in der Liebe des Herrn zu ihm zu ruhen. Schließlich ist da Judas, ohne Liebe zum Herrn – mit dem Geldbeutel bei sich und dem Teufel im Herzen, bereit, den Herrn zu überliefern und in die lange dunkle Nacht hinauszugehen.

In Jesus sehen wir, wie nahe Seine Liebe Ihn zu Menschen wie uns gebracht hat, so dass Johannes seinen Kopf in den Schoß Dessen legen konnte, der selbst im Schoß des Vaters wohnte. In Johannes sehen wir, was das Herz des Heilands für den Sünder tun kann, indem es ihn in vollkommener Liebe vollkommen ruhen lässt. In Judas sehen wir, was das Herz des Sünders mit dem Heiland tun kann – Ihn mit einer Liebesbezeugung für dreißig Silberstücke überliefern.

Die Fußwaschung ist vorüber, und für den Herrn ist die Zeit gekommen, Seine Abschiedsworte zu sprechen. Aber Sein Herz ist im Moment noch beschwert durch die Anwesenheit des Überlieferers. Der Herr schüttet den Jüngern Sein Herz aus, indem Er sagt: „Einer von euch wird mich überliefern.“ Die Jünger sehen einander an, in Verlegenheit darüber, von wem Er rede. Doch
wer anders könnte hier weiterhelfen als nur Er selbst? Aber das erfordert Nähe zu Ihm, und in dieser Gesellschaft im Obersaal war der Jünger dem Herrn am nächsten, dessen Füße in den Händen des Herrn gewesen waren, dessen Kopf im Schoß des Herrn ruhte, dessen Herz sich an der Liebe des Herrn erfreute und der sich als einen Jünger, den Jesus liebte, bezeichnen konnte. Petrus, der Mann, der auf seine Liebe zum Herrn vertraute, war dem Herrn nicht nahe genug, um Seine Gedanken in Erfahrung zu bringen; er musste Johannes winken.

So lernen wir, dass Nähe zum Herrn und Vertrautheit mit dem Herrn das glückliche Teil dessen sind, der in der Liebe des Herrn ruht.

Das Kreuz (Johannes 19,25-27)

Die zweite Gelegenheit, bei der Johannes als der Jünger beschrieben wird, den Jesus liebte, führt uns zum Kreuz. Dort steht die Mutter Jesu mit anderen Ihm zugetanen Frauen, und ein Jünger ist da – der Jünger, den Jesus liebte. Aber wo ist der Jünger, der in seiner Liebe zu Christus ruhte? Ach, er ist irgendwo an einsamem Ort, mit gebrochenem Herzen, und weint bittere Tränen der Reue. Und wo ist der Jünger, der in der Liebe Christi ruht? Wie im Obersaal so ist er auch hier so nah wie möglich bei Christus. Und was ist das Ergebnis? Er wird zu einem „Gefäß, nützlich dem Hausherrn“. Die Mutter Jesu wird seiner Fürsorge anvertraut. Das Ruhen in der Liebe des Herrn befähigt zum Dienst.

Die Auferstehung (Johannes 20,1-4)

Am Auferstehungsmorgen wird Johannes zum dritten Mal vorgestellt als der Jünger, den Jesus liebte, und zwar wieder in Verbindung mit Petrus. Die zwei Jünger erfahren von den Frauen, dass das Grab leer ist, und eilen herbei. Dann folgt etwas, was wie eine unbedeutende Einzelheit aussieht, nämlich, dass Petrus zuerst geht, dass dann beide zusammen gehen und dass der Jünger, den Jesus liebte, Petrus schließlich vorausläuft. Nichts, was der Geist Gottes aufgezeichnet hat, kann unwichtig sein, obwohl es, wie in diesem Fall, schwierig sein mag, die Wichtigkeit eines bestimmten Ereignisses zu erfassen. Doch wenn es erlaubt ist, diese Szene geistlich zu deuten, können wir etwas lernen, was sicherlich wahr ist: Während der Mann mit der eifernden Veranlagung bei manchem geistlichen Vorhaben der Anführer ist, ist es doch der Mann, der sich auf die Liebe des Herrn stützt, der schließlich die Führung übernimmt.

Der See von Tiberias (Johannes 21,1-7)

In dieser aufschlussreichen Szene spielen wieder Petrus und Johannes eine bedeutende Rolle, und zum vierten Mal wird Johannes der Jünger genannt, den Jesus liebte (V. 7). Wie gewöhnlich übernimmt der energische und impulsive Petrus die Führung. Er kehrt zu seiner alten Beschäftigung zurück. Er fragt nicht andere, ob sie mitmachen, sondern sagt einfach: „Ich gehe hin fischen.“ Doch unter dem Einfluss seiner beherrschenden Persönlichkeit sagen sie zu ihm: „Auch wir gehen mit dir.“ So gingen sie hinaus und mühten sich die ganze Nacht ab, und als Belohnung fingen sie – nichts.

Als der Morgen anbrach, „stand Jesus am Ufer; doch wussten die Jünger nicht, dass es Jesus sei“. Nachdem Er ihnen durch eine Frage die Nutzlosigkeit von Anstrengungen ohne Seine Anweisung vorgestellt hat, zeigt Er ihnen dann, wie reich die Ergebnisse sind, wenn man unter Seiner Leitung handelt. Sofort wird dem Jünger, den Jesus liebte, klar: „Es ist der Herr.“ Der, der auf die Liebe des Herrn vertraut, ist auch der mit der regen geistlichen Auffassungskraft.

„Als sie gefrühstückt hatten“ (Johannes 21,15-22)

Nach der Begebenheit auf dem See kommen die Jünger ans Land und finden ein Kohlenfeuer. Sie sehen Fisch darauf liegen und Brot und hören die Einladung: „Kommt her, frühstückt!“ Für ihre Bedürfnisse war reiche Vorsorge getroffen worden, unabhängig von allen ihren Bemühungen.

Nach dem Frühstück haben wir die Abschlussszene, in der wieder Petrus und Johannes einen besonderen Platz haben, und zum fünften Mal wird Johannes als der Jünger bezeichnet, den Jesus liebte (V. 20). Zuerst sehen wir das zarte Handeln des Herrn mit dem Mann, der auf seine eigene Liebe vertraute. Petrus, der gesagt hatte, dass er bereit sei, mit dem Herrn ins Gefängnis und in den Tod zu gehen, hatte erkannt, dass er nicht einmal imstande war, der bloßen Frage einer Magd standzuhalten. Aber über die eigentliche Verleugnung wird in dieser bewegenden Szene kein Wort verloren. Das ernste Versagen war zwischen dem Herrn und Seinem Diener in einem Zwiegespräch geklärt worden, in das kein Fremder sich einmischen soll. Alles, was wir von diesem Gespräch wissen, ist die Aussage der Jünger: „Der Herr ist wirklich auferweckt worden und dem Simon erschienen.“ Paulus bestätigte das lange Zeit später, als er den Korinthern schrieb, dass der auferstandene Christus „Kephas erschienen ist, dann den Zwölfen“. Wunderbare Liebe, die mit zärtlichem Erbarmen das erste Gespräch mit dem Jünger führte, der am meisten versagt hatte!

Wenn nun in dem ersten Gespräch sein Gewissen befreit wurde, dann wird in dieser Szene sein Herz wiederhergestellt. Damals hatte sich der Herr mit dem äußeren Versagen beschäftigt, hier beschäftigt Er sich mit der inneren Wurzel dieses Versagens. Die Wurzel war sein Vertrauen auf seine Liebe zu Christus, und die dreifache Frage legt diese Wurzel gründlich offen. Es ist, als ob der Herr sagte: „Petrus, behauptest du nach allem, was geschehen ist, immer noch, dass du mich mehr liebst als diese?“ – Bei der zweiten Frage sagt der Herr nichts von den anderen Jüngern; es heißt jetzt einfach: „Liebst du mich?“ – Bei der dritten Frage benutzt der Herr ein anderes Wort und fragt: „Hast du mich lieb?“ (bist du mir zugeneigt). Mit seiner dritten Antwort übergibt Petrus sich vollständig den Händen des Herrn, indem er sagt: „Herr, du weißt alles, du erkennst, dass ich dir zugeneigt bin.“ Es ist, als ob Petrus sagte: „Ich kann meiner Liebe nicht trauen oder von meiner Liebe reden oder davon, was ich tun werde; aber Du, Herr, weißt alles, und Du kennst mein Herz. Ich will es Dir überlassen, meine Liebe zu beurteilen und mir zu sagen, was ich tun soll.“

Petrus sagt dem Herrn nicht mehr im Selbstvertrauen, was er zu tun bereit ist, sondern der Herr sagt Seinem wiederhergestellten Jünger in unendlicher Gnade, wozu Er ihn befähigen wird. Der Herr sagt gleichsam: „Du vertraust nicht mehr auf deine Liebe, um große Dinge für mich zu tun, du hast mir alles überlassen; nun geh hin und weide meine Schafe, verherrliche Gott und folge mir nach“ (V. 17.19).

Der Herr scheint zu sagen: „Es gab Zeiten, da dachtest du, du liebtest mich mehr als diese anderen Jünger; jetzt geh hin und zeige deine Liebe, indem du meine Schafe weidest, die ich liebe. Du wolltest dich durch Gefängnis und Tod selbst verherrlichen über andere, jetzt geh hin ins Gefängnis und in den Tod, um Gott zu verherrlichen, und wenn hier unten alles vorüber ist, dann folge mir immer noch nach in die Fülle der Herrlichkeit, in die ich jetzt gehe.“ Können wir nicht sagen, dass die Art, wie der Herr mit einem gefallenen Jünger umgeht, eines der größten aller Wunder in Seinem Leben ist?

Aber was ist mit Johannes? „Petrus wandte sich um und sieht den Jünger nachfolgen, den Jesus liebte.“ Der Mann, der auf seine eigene Liebe vertraute und versagt hatte, benötigte wiederherstellende Gnade und die Ermahnung: „Folge mir nach.“ Nicht so der Mann, der in der Liebe des Herrn ruhte; er folgte bereits nach.

So sehen wir in dem Jünger, den Jesus liebte, die herrlichen Ergebnisse für die, die in der Liebe des Herrn ruhen.

Solche werden

– sich in der Nähe zum Herrn und in Vertrautheit mit Ihm aufhalten;

– bereit sein, sich im Dienst des Herrn gebrauchen zu lassen;

– geistliche Fortschritte machen;

– geistliche Einsicht haben und

– dem Herrn ganz dicht nachfolgen.

Wie gut, wenn wir wie die Braut im Hohenlied glücklich sagen können: „Ich bin meines Geliebten und nach mir ist sein Verlangen.“ Wenn wir auch wenig von unserer Liebe zu Ihm sprechen können, können wir uns doch getrost Seiner Liebe zu uns rühmen. Es ist das Vorrecht des jüngsten Gläubigen, zu sagen: „Ich bin ein Jünger, den Jesus liebt“, und der älteste und fortgeschrittenste Jünger kann nicht mehr als das sagen, denn alle Segnungen finden sich ausschließlich in Seiner allumfassenden Liebe. Diese Liebe bewegte Ihn dazu, für uns zu sterben, damit auch wir in unserem geringen Maß Seine Schafe weiden, Gott verherrlichen und Ihm in die Herrlichkeit, in die Er vorangegangen ist, nachfolgen können.

 

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2007, Heft 9, Seite 257

Bibelstellen: Joh 13, 21-25; Joh 19, 25-27; Joh 20, 1-4; Joh 21, 1-7; Joh 21, 15-22