Das Lamm Gottes

In der Anwendung alttestamentlicher Vorbilder auf die Person und das Werk des Herrn Jesus zeigt sich häufig, dass nicht so sehr vorhandene Übereinstimmungen, sondern viel mehr die Unterschiede zwischen Vorbild und Wirklichkeit von tiefgreifender Bedeutung sind. Denn erst dadurch zeigt sich die Größe Seiner Person gegenüber allen Vorbildern.

Diese Betrachtungsweise liegt insbesondere dem Hebräerbrief zugrunde. Fortwährend wird dort Christus im Kontrast zu vielen alttestamentlichen Abbildern gesehen, wobei deren Bedeutung verblasst, wenn sie an Ihm gemessen werden. Ein Beispiel hierfür ist in der Gegenüberstellung der Opfer des Alten Bundes mit dem göttlichen Opfer des Sohnes zu finden. Obwohl jedes einzelne alttestamentliche Opfer für sich bis in die kleinsten Einzelheiten der Zubereitung und Darbringung ein wunderbares Vorbild auf das Opfer des Herrn Jesus ist, so kristallisiert sich die Erhabenheit und Einzigartigkeit Seines Opfers erst in der Betrachtung der Unterschiede heraus. Das wollen wir im Hinblick auf das Brandopfer ein wenig genauer betrachten.

Das alttestamentliche Brandopfer

Das Brandopfer spricht vom Opfertod des Herrn am Kreuz und war daher ein blutiges Opfer, im Gegensatz zum Speisopfer, das von Seinem Leben als gerechter Mensch redet und bei dem daher kein Blut floss. Zum Fest der ungesäuerten Brote sollten insgesamt 2 Stiere,
1 Widder und 7 Lämmer als Brandopfer dargebracht werden (4. Mo 28,19). Ein einzelnes Tier hätte hier nicht ausgereicht, um auf die vielen Merkmale des wahren Brandopfers hinzuweisen – auf das Lamm Gottes! Hier sehen wir bereits den auffallendsten Unterschied zwischen dem vorbildlichen und dem wahren Brandopfer: Während der opfernde Priester insgesamt 10 verschiedene Tiere für das Brandopfer darbringen musste, hatte Gott Seinerseits ein einziges Lamm – Seinen Sohn! In Ihm vereinten sich alle Merkmale, die in den verschiedenen Opfertieren vorgebildet sind: die Kraft und Ausdauer der beiden jungen Stiere, die Energie des Widders sowie der Gehorsam und die Hingabe eines Lammes. Solche Unterschiede heben die Größe Seiner Person und Seines Opfers deutlich hervor!

Der Sohn als Brandopfer

Zu alttestamentlichen Zeiten lag diese wunderbare Wahrheit über das Lamm Gottes noch hinter dem Schleier der Vorbilder verborgen. Erst im Neuen Testament wird offenbar, dass das Lamm Gottes der Sohn Gottes Selbst ist (Joh 1,29.36). Dennoch tritt diese Wahrheit an einer Stelle im Alten Testament für einen kurzen Augenblick hervor, wenn wir lesen: „Nimm deinen Sohn …, und opfere ihn als Brandopfer“ (1. Mo 22,2). Diese Stelle ist sehr bemerkenswert, denn sie weist schon darauf hin, dass der Sohn Gottes das Lamm Gottes werden sollte. Menschen konnten nur Tiere als Opfergabe bringen, die niemals Sünden wegnehmen können (Heb 10,11). Gott jedoch gab Seinen Sohn als Opferlamm. Was für ein gewaltiger Unterschied, der sowohl die Größe der Erbarmung Gottes als auch die damit verbundene Erniedrigung Seines Sohnes hervortreten lässt!

Die zweifache Bedeutung des Lammes

Bleiben wir noch einen Augenblick beim alttestamentlichen Opferlamm, so fällt uns auf, dass im Gegensatz zu dem einen Lamm Gottes hier die Wahl bestand zwischen einem Lamm von den Schafen oder von den Ziegen – sowohl beim Passah (2. Mo 12,5) als auch beim Brandopfer (3. Mo 1,10). Abgesehen davon, dass Gott hier dem Opfernden je nach Besitz eine gewisse Freizügigkeit gestattet, zeigt uns das Schaf den Gehorsam und die völlige Ergebenheit des Sohnes Gottes, der alles erduldete „wie ein Schaf, das stumm ist vor seinen Scherern, und seinen Mund nicht auftat“, um das zu erfüllen, was dem Willen des Vaters entsprach (Jes 53,7). Im Lamm von den Ziegen können wir vielleicht eher die Festigkeit und den Willen des Herrn erblicken, dieses Opfer im Gehorsam zu stellen.

Doch worin liegt nun hier der bereits angedeutete Unterschied zwischen Vorbild und Wirklichkeit? Das Wörtchen „oder“ zeigt es uns: Das Lamm konnte entweder von den Schafen oder von den Ziegen genommen werden – im Opfer Christi dagegen finden wir beides untrennbar miteinander verbunden, denn in Seinem Opfer haben wir die Bedeutung von beidem. Er war in Seinem Gehorsam willig und in Seiner Festigkeit auch fähig, das Lamm Gottes zu werden. Strahlt nicht durch diesen Gegensatz die Größe Seiner Person hervor? Alle Vorbilder finden gemeinsam in Ihm ihre Erfüllung.

Ein Vergleich mit Mose und Paulus

So zeichnet sich das Lamm Gottes gleichzeitig durch Willigkeit und durch Fähigkeit zur Vollbringung des Werkes Gottes aus. Nur Christus war bereit und imstande, für sündige Menschen zu sterben. Das ist die Besonderheit des Lammes Gottes gegenüber allen Vorbildern im Alten Testament.

Wir finden das durch zwei weitere Beispiele in Gottes Wort bestätigt: Sowohl im Alten als auch im Neuen Testament wird von einem Mann berichtet, der sich in der Eigenschaft eines Opfers für andere hingeben wollte, dem aber die Fähigkeit dazu fehlte. Es sind Mose und Paulus. Mose war einst bereit, aus dem Buch Gottes um des Volkes willen ausgelöscht zu werden (2. Mo 32,32), und Paulus war bereit, durch einen Fluch von Christus entfernt zu werden um seiner Brüder willen (Röm 9,3). Es steht außer Frage, dass bei beiden eine glühende, echte Liebe zum Volk Gottes der Beweggrund hierfür war. Aber sie konnten dieses Opfer nicht stellen, weil ihnen die Fähigkeit dazu fehlte! Sie konnten nicht das Gericht Gottes für andere auf sich nehmen, weil sie selbst dieses Gericht verdient gehabt hätten. Wie eindrucksvoll sprechen davon die Verse 8 bis 10 von Psalm 49! Das konnte nur der Herr Jesus, weil Er selbst ohne Sünde war und darum tauglich, alles zugleich zu erfüllen, was nötig war.

Was für ein einmaliges Opfer ist doch dieses Lamm Gottes! In der ganzen Ewigkeit wird Er so vor uns stehen – als „ein Lamm wie geschlachtet“. Mögen wir vom Anblick dieses Lammes so tief beeindruckt sein wie der Apostel Johannes! Er war es schon auf der Erde (Joh 1,36) und durfte es im Geist auch schon im Himmel sein (Off 5,6). Das wird auch unser ewiges Teil sein, Ihn zu sehen, wie Er ist.

M. Wölfinger

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2008, Heft 5, Seite 150

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