Dies ist das ewige Leben

Gerechtigkeit – Merkmal der Kinder Gottes

1. Johannes 2,28 – 3,10

(Fortsetzung von Seite 160)

Die Liebe des Vaters

Der Apostel Johannes knüpft an die Worte „aus ihm geboren“ an und kommt nun speziell auf die Kinder Gottes und auf die Liebe des Vaters zu sprechen. Wir haben in dieser Arbeit schon wiederholt von Kindern Gottes gesprochen. Das ist auch gar nicht anders möglich, denn dieser Brief handelt von den Kindern Gottes und richtet sich an die Kinder Gottes. Der Apostel aber hatte diesen Ausdruck noch nicht verwendet. Er tut es jetzt zum ersten Mal und leitet damit eine kleine Einschaltung oder Abschweifung ein, die von ausnehmender Schönheit ist.

„Seht, welch eine Liebe uns der Vater gegeben hat, dass wir Kinder Gottes heißen sollen! Und wir sind es“ (1. Joh 3,1a).

Mit einem „Seht“ fordert er seine Leser auf, ihre besondere Aufmerksamkeit auf das zu richten, was er ihnen jetzt vorstellen will. Wir sollten solche Wörter nicht nur als bloße Füllwörter abtun, die man getrost übergehen kann. Es ist Gott selbst, der uns, durch Seinen Knecht Johannes redend, auffordert: „Seht doch einmal genau hin auf das, was jetzt kommt! Schaut es euch an!“ Das muss schon etwas Besonderes sein; und in der Tat, das ist es auch!

Auf die Liebe des Vaters wird unser Blick gerichtet, auf die Qualität dieser Liebe und darauf, was sie zum Ergebnis hat.

Nach dem Aufruf „Seht“ folgt ein interessantes Pronomen (Fürwort). Es wird im Griechischen benutzt, um auf die Beschaffenheit einer Sache oder Person hinzuweisen. Ursprünglich bedeutete es: „von woher? woher gebürtig?“ Hier wird damit, wenn wir mit aller Hochachtung so sagen dürfen, die Qualität der Liebe des Vaters beschrieben. Dieses Fürwort (gr. potapós), das uns hin und wieder im Neuen Testament begegnet (Mt 8,27; Mk 13,1; Lk 1,29; 7,39; 2. Pet 3,11), ist mit „welche“ oder „welch eine“ in unserem Text unbedingt zu schwach wiedergegeben. Es drückt vielmehr Erstaunen, zumeist sogar Bewunderung aus und wird am besten mit „von welcher Art?“ oder „von welcher Beschaffenheit?“ übersetzt: „Seht, welch eine Art von Liebe …“ Ja, von welcher Art muss die Liebe sein, wie groß, wie herrlich muss sie sein, dass sie uns zu einer solch hohen Stellung berufen hat! Diese Liebe recht zu sehen, Geliebte, bedeutet, in Anbetung niederzusinken. Sie übersteigt unser Begriffsvermögen.

Und dann lernen wir, dass diese Liebe eine Gabe, ein Geschenk des Vaters an uns ist. Soweit bekannt, gibt es keine weitere Schriftstelle im Neuen Testament, wo die Liebe des Vaters zu uns unter diesem Blickwinkel gesehen wird. Nur hier wird sie als eine Gabe betrachtet, die der Vater uns gegeben hat. Was für eine Aussage: Der Vater hat uns Seine Liebe geschenkt! Es ist ein reines Gnadengeschenk – diese Vaterliebe, die durch nichts in uns hervorgerufen wurde. Wie das „geboren“ in Kapitel 2,29, so steht auch hier das „gegeben“ in der Perfekt-Form; beide Gedanken entsprechen einander. Wer aus Gott geboren ist, bleibt in diesem Zustand. So verhält es sich auch mit dieser Gabe, der Liebe des Vaters zu uns: Sie ist uns gegeben und bleibt unser Besitz. Was könnte uns glücklicher machen – heute, morgen, in Ewigkeit?

Es ist zudem derselbe Vater, der schon dreimal in diesem Brief erwähnt wurde (Kap. 1,2.3; 2,1) – der Vater des Sohnes und in Ihm, dem Herrn Jesus Christus, nun auch unser Vater (Joh 20,17). Obwohl diese beiden Beziehungen auseinander gehalten werden, sind sie doch eng miteinander verbunden. Ich denke, dass die Person des Vaters hier deswegen im Vordergrund steht, weil es um die himmlische Familie, um ihren Ursprung und ihre Beziehungen geht.

Und worin gipfelt die Liebe, die der Vater uns gegeben hat? Was macht ihre besondere Art, ihre Qualität aus? „… dass wir Kinder Gottes heißen sollen.“ Beglückende Antwort! Denn beachten wir: Dieser Dass-Satz gibt nicht nur eine Absicht wieder, sondern er drückt eine Tatsache aus. Deswegen wird auch sogleich angefügt: „Und wir sind es.“ Dieser Nachsatz ist in manchen, allerdings untergeordneten Handschriften ausgelassen. Man hat den Eindruck, dass die in ihm enthaltene Aussage einigen Abschreibern zu kühn war und sich ihre Feder sträubte, diese Worte zu kopieren. Doch sie sind bestens bezeugt und haben allen Anspruch auf Ursprünglichkeit. Wir heißen Kinder Gottes, weil wir es sind. Nicht erst später, sondern heute! Der nächste Vers bestätigt das: „Geliebte, jetzt sind wir Kinder Gottes“ (Kap. 3,2).

Damit haben wir von den vier Vorkommen dieses Ausdrucks in diesem Brief bereits zwei genannt. Er begegnet uns noch in Vers 10 und in Kapitel 5,2. – „Kinder Gottes“! Oh, liebe Freunde, Gott hätte uns, wenn Er uns Gnade erweisen wollte, zu etwas anderem, Niedrigerem machen können, zu Dienstboten etwa, zu „Holzhauern und Wasserschöpfern“ (Jos 9,21), die Er mit der Ausführung niedriger Dienste betraute. Hätten wir nicht auch dann allen Grund gehabt, dankbar zu sein?

Doch nein, Er machte uns zu Seinen Kindern, teilte uns durch die neue Geburt Sein eigenes Wesen und Leben mit. Deswegen ist die Beziehung eines Kindes weit inniger als die eines angenommenen Sohnes. Gewiss, Gott hat uns auch diese Segnung geschenkt, hat uns durch Adoption zu Seinen Söhnen gemacht (das griechische Wort für „Sohnschaft“ bedeutet „Adoption, Annahme an Sohnes statt“). Aber das vorzustellen gehörte in den Aufgabenbereich des Apostels Paulus (Gal 4,5-7; Eph 1,5). Johannes jedoch, der ohnehin in seinen Schriften den Titel „Sohn“ für den Sohn Gottes reserviert hat, zeigt die gegenüber „Adoption“ innigere, intimere Beziehung von Kindern zum Vater. Denn es ist augenscheinlich, dass man in einer natürlichen Familie als Sohn „angenommen“ sein kann, ohne als Kind in die Familie „geboren“ worden zu sein. „Sohn“ ist tatsächlich mehr ein öffentlicher Titel, während „Kind“ die Nähe durch Geburt ausdrückt.

Verstehen wir jetzt ein wenig besser, welche Art von Liebe uns der Vater gegeben hat? Er wollte uns für Zeit und Ewigkeit als Seine Kinder haben: solche – mit aller Ehrfurcht sei es gesagt -, die von derselben Art sind wie Er selbst. Und das alles durch den Sohn Seiner Liebe, wie hoch für Ihn die Kosten auch waren! Da können und wollen wir keine weiteren Erklärungen mehr abgeben, sondern uns einfach in Anbetung niederwerfen vor Dem, der uns solche Liebe gegeben hat. –

Warum die Welt uns nicht versteht

„Deswegen erkennt uns die Welt nicht, weil sie ihn nicht erkannt hat“ (1. Joh 3,1b).

Mit einem „Deswegen“ blickt der Apostel auf das in der ersten Vershälfte Gesagte zurück, benutzt es jetzt aber, um uns zu erklären, warum die Welt uns nicht erkennt. Der mit „weil“ beginnende Nachsatz fügt dann noch einen weiteren Gedanken, einen zusätzlichen Grund an. So steht das „Deswegen“ in der Mitte und verbindet das Vorhergehende mit dem Nachfolgenden. Auf ähnliche Konstruktionen treffen wir wiederholt im Johannes-Evangelium (z. B. Kap. 5,16.18; 8,47; 12,39). Die Bedeutung hier können wir folgendermaßen wiedergeben: „Wir sind Kinder Gottes, und deswegen erkennt uns die Welt nicht, denn sie hat ihn nicht erkannt.“ Mit „Welt“ sind im Gegensatz zu Kapitel 2 alle Menschen gemeint, die nicht von neuem geboren sind.

Als „Erdenbürger“ nimmt uns die Welt wahr, versteht sie uns, weil wir, äußerlich gesehen, dasselbe Los mit ihr teilen. Doch als Kinder Gottes sind wir ihr völlig fremd, erkennt sie uns nicht, weil sie unseren Vater nicht kennt. Die Welt hat keine Vorstellung davon, wer und was unser Vater ist. Deshalb sind ihr auch die ein Rätsel, die aus Ihm geboren sind. Das kann auch gar nicht anders sein; denn „der natürliche Mensch … nimmt nicht an, was des Geistes Gottes ist, denn es ist ihm Torheit, und er kann es nicht erkennen, weil es geistlich beurteilt wird“ (1. Kor 2,14).

Die Welt ist stolz auf ihre mannigfachen Erkenntnisse und brüstet sich ihrer Errungenschaften. Aber das, was wirklich des Erkennens wert ist, erkennt sie nicht. So ist die neue Geburt in ihren Augen reine Torheit, und diejenigen, die davon als einer Notwendigkeit für alle Menschen sprechen, belächelt sie als überspannt, irregeleitet. Stattdessen reden die Leute, wenn sie überhaupt noch Gott in Gedanken haben, von einer „universalen Vaterschaft Gottes“ und machen damit kurzerhand alle Menschen zu Seinen Kindern. Verwundert es uns dann, wenn „Erlösung“ und „neue Geburt“ in ihren Gedankengängen keinen Raum finden?

Wir sollten, was unseren Glauben angeht, wahrlich nicht mit dem Verständnis und der Anerkennung der Welt rechnen. Das einfache Wort vonseiten Gottes, die schlichte Wahrheit, ist: Sie erkennt uns nicht. Auch alles, was uns als Gläubigen groß und kostbar ist, ist ein Nichts für sie. Die Männer und Frauen des Glaubens beispielsweise, deren Namen und Geschichte auf den Blättern der Bibel auf ewig eingraviert sind, sind ihr weitgehend unbekannt und gleichgültig. Ihre Helden sehen anders aus. Wir sollten nicht traurig darüber sein, dass die Welt uns nicht versteht. Denn würde sie uns verstehen, wären wir ihr gleich, wären wir keine Kinder Gottes. Die Tatsache aber, dass die Welt uns nicht erkennt, ist ein untrüglicher Beweis dafür, dass wir aus Gott geboren sind.

Doch dann wird ein weiterer Grund dafür angegeben, dass die Welt uns nicht erkennt: „… weil sie ihn nicht erkannt hat.“ Mit „ihn“ ist jetzt offensichtlich der Herr Jesus gemeint. Als der Sohn Gottes hier war und Gott kundmachte, das ewige Leben offenbarte, da erkannte die Welt Ihn nicht. Den religiösen Führern der Juden musste Er entgegenhalten: „Ihr kennt weder mich noch meinen Vater; wenn ihr mich gekannt hättet, würdet ihr auch meinen Vater gekannt haben“ (Joh 8,19).

Nein, die Welt verstand Christus nicht. Da sie Ihn nie erkannt hat, so erkennt sie Ihn auch heute nicht. Doch wenn nun auch uns dasselbe Los trifft wie Ihn, welch eine wunderbare Identifikation (Gleichsetzung) mit unserem Heiland wird dann hier erkennbar! Gewiss, Er zeigte in Vollendung, was das ewige Leben ist; wir zeigen es nur ansatzweise. Aber es ist dasselbe Leben! Und die Welt gab und gibt darauf stets dieselbe Antwort: Unverständnis, ja Hass – ob in Seinem oder in unserem Fall (Joh 15,18). Aber gerade diese Antwort ist geeignet, uns im Glauben zu befestigen, offenbart sie doch auf ungewollte Weise die Echtheit des göttlichen Lebens in uns. Wenn Christus unser Leben ist, dann muss die Welt uns geradeso behandeln wie Ihn.

Je näher wir in der Praxis unseres Lebens unserem Herrn und Meister nachfolgen, je mehr wir Ihm ähnlich sind, desto stärker werden wir auch diese Unwissenheit und Ablehnung der Welt erfahren. Das mag uns schmerzen und irritieren, und doch liegt darin, wie schon angedeutet, ein großer Trost – beweist es doch, dass wir „nicht von der Welt“, sondern Kinder Gottes sind. Denn andernfalls würde sie das Ihre lieben (Joh 15,19).

(Wird fortgesetzt) Ch. Briem

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2008, Heft 6, Seite 185

Bibelstellen: 1Joh 3, 1