Dies ist das ewige Leben

Gerechtigkeit – Merkmal der Kinder Gottes

1. Johannes 2,28 – 3,10

(Fortsetzung von Seite 224)

„Sünde tun“

Nach der kleinen, aber überaus wertvollen Einschaltung über die Liebe Gottes, des Vaters, und deren segensreiche Auswirkungen für die Kinder Gottes (1. Joh 3,1-3) kommt der Apostel Johannes auf den Haupt-gegenstand in diesem Teil seines Briefes zurück und beschreibt weiter die Merkmale derer, die aus Gott geboren sind: Gerechtigkeit (Kap. 2,28-3,10) und Liebe (Kap. 3,11-23).

Zunächst haben wir es also wieder mit der Frage praktischer Gerechtigkeit als Beweis göttlichen Lebens zu tun. Und um die Trennlinie zwischen den beiden Familien, den Kindern Gottes und den Kindern des Teufels (V. 10), noch deutlicher zu markieren, kommt der Schreiber jetzt auf das Gegenteil von dem zu sprechen, was Kinder Gottes auszeichnet. Von ihnen wurde gesagt, dass sie „die Gerechtigkeit tun“ (Kap. 2,29). Daran direkt anknüpfend, macht nun der vierte Vers von Kapitel 3 deutlich, was für die Menschen ohne Gott typisch ist. Und welch ein gravierender Gegensatz tut sich uns hier auf!

„Jeder, der die Sünde tut, tut auch die Gesetzlosigkeit“ (1. Joh 3,4a).

Wie wir gesehen haben, sind Kinder Gottes dadurch gekennzeichnet, dass sie „die Gerechtigkeit tun“ oder: dass sie „die Gerechtigkeit Tuende“ sind (so die wörtliche Wiedergabe). Das ist das beherrschende Prinzip ihres Lebens, gleichsam das Leitmotiv. Aber jetzt heißt es: „Jeder die Sünde Tuende“, und wieder ist mit diesem Präsens-Partizip (Mittelwort der Gegenwart) ein andauernder, für die Person charakteristischer Zustand gemeint: jeder, der gewohnheitsmäßig die Sünde tut. Dieses Sünde-Tun ist von dem Begehen einer Sünde, wie wir es zum Beispiel in Kapitel 2,1 haben, zu unterscheiden. Wohl kann auch ein Gläubiger sündigen, wie diese Stelle zeigt. Wenn er Christus aus dem Auge verliert, dann handelt er nicht mehr dem neuen Leben entsprechend, das ihm verliehen worden ist, und er sündigt. Aber das ist ein einzelner Akt des Sündigens, nicht jedoch ein Leben in der Sünde.

Das „Tun von Sünde“ dagegen bezeichnet eine Gewohnheit, einen bösen, andauernden Zustand. Und was für ein erschreckender Zustand liegt in der Tat vor, wenn jemand grundsätzlich, gewohnheitsmäßig die Sünde tut und darin lebt! Es ist der Zustand eines jeden Menschen, der noch nicht von neuem geboren ist. Und wie das Tun von Gerechtigkeit der Beweis des neuen Lebens ist, so ist das Tun von Gesetzlosigkeit der Beweis davon, dass die entsprechende Person noch nicht aus Gott geboren ist.

Aber die Sünde zu tun bedeutet auch, die Gesetzlosigkeit zu tun. Denn es wird gesagt, dass jeder, der die Sünde tut, auch die Gesetzlosigkeit tut. Was haben wir unter „Gesetzlosigkeit“ zu verstehen? Die Übertretung des Gesetzes vom Sinai? Viele meinen das. Aber wenn das so wäre, hätte es vor dem Gesetz keine Sünde in der Welt gegeben, heißt es doch im Römerbrief: „Wo aber kein Gesetz ist, da ist auch keine Übertretung“ (Kap. 4,15). Und: „Denn bis zu dem Gesetz war Sünde in der Welt“ (Kap. 5,13). Nein, Sünde wird als Gesetzlosigkeit definiert (bestimmt), nicht als Übertretung. Es sind im Griechischen auch zwei ganz verschiedene Wörter (gr. anomía, parábasis). Zur weiteren Erklärung müssen wir den Nachsatz unseres Verses zu Hilfe nehmen:

„… und die Sünde ist die Gesetzlosigkeit“ (1. Joh 3,4b).

Das ist, grammatisch gesehen, ein reziproker Satz (siehe zu 1. Joh 1,5 unter „Eine textliche Besonderheit > Reziproke Sätze“). Das heißt, man kann „Sünde“ und „Gesetzlosigkeit“ gegeneinander austauschen und sagen: „Die Gesetzlosigkeit ist die Sünde.“ Nun ist natürlich jede Übertretung des Gesetzes Sünde, aber Sünde umfasst weit mehr als das.

Auch spricht unsere Stelle nicht von einzelnen Taten oder Handlungen, sondern von der Natur der Sache. Sie zeigt, was Sünde dem Wesen nach ist: Gesetzlosigkeit. Oder umgekehrt können wir sagen: Gesetzlosigkeit ist das Prinzip der Sünde. Einen eigenen, von Gott unabhängigen Willen offenbaren oder tun – das ist der eigentliche Grundsatz, ist das Wesen der Sünde. Der natürliche Mensch unterwirft sich nicht dem Willen Gottes, er geht seinen eigenen Weg, ohne nach Gott zu fragen. Das ist im tiefsten und wahrsten Sinn Sünde. Und es ist das, was wir natürlicherweise alle tun. Jesaja drückt es so aus: „Wir alle irrten umher wie Schafe, wir wandten uns ein jeder auf seinen Weg, und der Herr hat ihn treffen lassen unser aller Ungerechtigkeit“ (Jes 53,6).

Diese Unabhängigkeit von Gott ist das, was jeden Menschen kennzeichnet, der noch nicht durch die Gnade gelernt hat, sich dem Willen Gottes zu unterwerfen. Der Mensch tut nichts anderes als seinen eigenen Willen, und damit tut er – um mit unserem Vers zu reden – die Sünde. Denn die Gesetzlosigkeit, dieses Frei-Sein-Wollen von der Autorität eines Höheren, ist Sünde. Wie zuwider Gott solch eine Haltung ist, macht schon das Alte Testament deutlich: „Denn wie Sünde der Wahrsagerei ist Widerspenstigkeit, und der Eigenwille wie Abgötterei und Götzendienst“ (1. Sam 15,23).

Wir können diesen Hang zur Unabhängigkeit von Gott nicht ernst genug nehmen. Er durchzieht die ganze Welt und liegt all ihrem Tun zugrunde. Doch diese Welt, so hatten wir gesehen, „vergeht und ihre Lust; wer aber den Willen Gottes tut, bleibt in Ewigkeit“ (1. Joh 2,17). Den Willen Gottes tun – die Sünde tun, das sind sie, diese beiden, sich widerstreitenden Prinzipien! Sie sind einander so stark entgegengesetzt wie Licht und Finsternis, wie Himmel und Hölle.

(Wird fortgesetzt) Ch. Briem

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2008, Heft 8, Seite 253

Bibelstellen: 1Joh 3, 4