Dies ist das ewige Leben

Liebe – Merkmal der Kinder Gottes

1. Johannes 3,11-23

(Fortsetzung von Seite 352)

Bruderliebe

Im vorhergehenden Abschnitt (1. Joh 2,28-3,10) haben wir als hervorstechenden Charakterzug der Kinder Gottes die Gerechtigkeit gesehen – praktische Gerechtigkeit. In dem jetzt folgenden Abschnitt (Kap. 3,11-23) tritt die Liebe als Merkmal der Kinder Gottes in den Vordergrund. Dass die beiden näher beieinanderstehen, als wir gemeinhin annehmen, ist sicher deutlich geworden. Auch hatte der Apostel im letzten Vers des vorhergehenden Abschnitts (Vers 10) bereits den Gedanken der Bruderliebe eingeführt, allerdings in negativer Form: Ihr Nichtvorhandensein verriet, dass kein göttliches Leben da war.

Aber jetzt wird die positive Seite der Liebe zu den Brüdern gezeigt, und zwar in mannigfacher Beziehung, wie wir feststellen werden. Nichtsdestoweniger hält der Heilige Geist es auch für notwendig, uns auf ihr Gegenteil, den Hass der Welt den Brüdern gegenüber, vorzubereiten.

Wenn auch die Bruderliebe den ganzen genannten Abschnitt (V. 11-23) als Leitgedanke durchzieht, so können wir doch entsprechend den erkennbaren, unterschiedlichen Gewichtungen zwei Unterabschnitte bilden und sie folgendermaßen betiteln:

Verse 11-18: Bruderliebe

Verse 19-23: Vertrauen zu Gott

Der letzte Vers des Kapitels gehört bereits einem neuen großen Abschnitt dieses Briefes an. Er erstreckt sich bis Kapitel 5,5 und hat einen Themenkreis zum Inhalt, den wir mit „Gottes Wohnen in uns und unser Wohnen in Gott“ gut umschreiben können.

Damit haben wir ein gedankliches Gerippe des ganzen verbleibenden Abschnitts von Kapitel 3 vor uns. Es mag uns helfen, eine gewisse Ordnung in die Fülle der vorgestellten Gedanken und Themen zu bringen.

Ein frühes Gebot

„Denn dies ist die Botschaft, die ihr von Anfang an gehört habt, dass wir einander lieben sollen“ (1. Joh 3,11).

Hier begegnen wir erneut dem Ausdruck „von Anfang an“, der für unseren Brief so charakteristisch ist. Wie wir bereits gelernt haben, bedeutet er (von der Ausnahme in Kapitel 3,8 abgesehen, wo er sich auf den Teufel bezieht): „von der Zeit an, als Christus hier war und das ewige Leben offenbarte“. In Tagen, in denen Irrlehrer und Verführer verderbliche Lehren unter den Gläubigen einzuführen suchten, Lehren von Dämonen (1. Tim 4,1), sah der Apostel die Notwendigkeit, die Kinder Gottes zu dem zurückzuführen, was sie von Anfang an gelehrt worden waren, sei es durch den Herrn Jesus selbst, als Er noch hier war, oder durch Seine Apostel.

Ja, was könnte auch für uns heute in einer Zeit, in der wahres Christentum immer mehr aufgegeben wird, wichtiger sein, als zu Christus selbst zurückgeführt zu werden? Das Große, was wir anschauen müssen und was „das Leben“ ist, ist Christus, offenbart in der Welt. Christus allein ist es, der uns den wahren Charakter von allem geben kann: Er ist „die Wahrheit“. Hier gibt es ebenso wenig eine „Entwicklung“ wie in den natürlichen Dingen. Als der Heiland in dieser Welt war, war Er die vollkommene Offenbarung der Natur Gottes und damit auch der Liebe Gottes. Und was wir mit Bewunderung feststellen dürfen: Er hatte eine spezielle Liebe zu Seinen Jüngern.

Diese Offenbarung war in der Tat etwas völlig Neues. Erst seit dieser Zeit auch gab der Herr den Seinen ein „neues Gebot“: dass sie einander lieben sollten (Joh 13,34). Gott stand im Begriff, die Familie Seiner Kinder zu bilden und die zerstreuten Kinder Gottes in eins zu versammeln. Und in dieser Familie sollten und
sollen göttliche Zuneigungen regieren. Es geht hier
nicht um die Liebe zum Nächsten (Gesetz), nicht um die Liebe zum Menschen (Evangelium), sondern um
die Liebe der göttlichen Beziehungen innerhalb der Familie Gottes.

Wenn wir im Verlauf unserer Betrachtungen wiederholt von den Kindern Gottes als der Familie Gottes und soeben von ihrer Bildung gesprochen haben, so gibt das Anlass zu der Bemerkung, dass wir im Neuen Testament zwei Formen der Einheit finden. Die uns durch den Apostel Paulus vorgestellte Form ist die Einheit des Leibes Christi. Von ihr spricht der Apostel Johannes nicht, auch nicht an einer einzigen Stelle seiner Schriften. Ihm war es dagegen gegeben worden, die Einheit der Familie Gottes vor die Herzen zu bringen. Diese Wahrheit ist von inniger Schönheit, sie vermag uns wahrhaft glücklich zu machen. Denn in gewissem Sinn ist die Familie Gottes trotz allen Versagens auch heute noch „intakt“.

Und noch etwas scheint wichtig, hervorgehoben zu werden. Wenn bisher in diesem Brief von der Liebe gesprochen wurde, so stets in dem Sinn, dass ihr Vorhandensein ein Hinweis dafür ist, dass die Person von neuem geboren ist – Liebe eben als ein Merkmal des neuen Lebens. Das ist auch so in dem Abschnitt, der jetzt vor uns liegt. Wir brauchen nur einmal auf den vierzehnten Vers vorauszuschauen. Aber im elften Vers, bei dem wir gerade stehen, verhält es sich anders. Hier haben wir – zum ersten Mal – die Ermahnung an die Kinder Gottes, einander zu lieben.

Ja, diese Ermahnung ist der Inhalt der Botschaft, die sie von Anfang an gehört hatten. Wenn wir bedenken, dass diese „Botschaft“ an der Seite der gewichtigen Botschaft zu Beginn des Briefes steht: „… dass Gott Licht ist und gar keine Finsternis in ihm ist“ (Kap. 1,5), so mögen wir den Ernst und die Wichtigkeit dieser zweiten Botschaft erkennen. Dieses frühe Gebot des Herrn Jesus, dass wir einander lieben sollen, ist von zentraler Bedeutung für das Wohlergehen der Familie Gottes. Und doch, wie oft haben wir uns dagegen vergangen! Fehlt die Liebe, ist nichts wirklich gut. Ist sie aber wirksam, können selbst ernste Schwierigkeiten gelöst werden. Sicher ist es nicht unangebracht, an dieser Stelle auf das „Hohe Lied der Liebe“ eines anderen neutestamentlichen Schreibers hinzuweisen: 1. Korinther 13.

Durch Hieronymus, einen der Kirchenväter, haben wir Kenntnis davon, dass der Apostel Johannes gegen Ende seines Lebens, nachdem er zu schwach geworden war, um noch zu predigen, immer wieder auf das Gebot des Herrn hingewiesen und die Gläubigen ermahnt hat: „Kinder, liebt einander!“

Hass – nicht Liebe

Nachdem der Apostel die Kinder Gottes an das frühe Gebot des Herrn, einander zu lieben, erinnert hat, kommt er auf das genaue Gegenteil davon, den Hass, zu sprechen. Er geht dabei in der Geschichte der Menschheit erstaunlich weit, ja, auf den ersten in Sünde geborenen Menschen, zurück, um auf das früheste Beispiel von Hass gegenüber einem Bruder zu verweisen. Allein daraus lernen wir schon eine ernste, beschämende Lektion: Auch der Hass ist eine sehr alte Sache.

„… nicht wie Kain aus dem Bösen war und seinen Bruder ermordete; und weshalb ermordete er ihn? Weil seine Werke böse waren, die seines Bruders aber gerecht“ (1. Joh 3,12).

Mit dem achten Vers unseres Kapitels begann die Schilderung der ganzen Geschichte der Sünde, und hier findet sie nun ihre tragische Fortsetzung. Kain erwies sich durch das, was er tat, als „aus dem Bösen“, dem Teufel, erwies sich als „Kind des Teufels“. Man ist ent-
weder „aus Gott“ oder „aus dem Bösen“. Beiden Gruppen von Menschen sind gewisse Werke eigen. Es gibt keinen Mittelweg zwischen Liebe und Hass, und die Kluft zwischen dem, was aus Gott ist, und dem, was aus dem Bösen ist, ist unüberbrückbar. Durch den
Mord an seinem Bruder offenbarte Kain seine geist-
liche Verbindung, seine sittliche Verwandtschaft mit
dem Bösen; denn der Teufel war ein „Menschenmörder von Anfang an“ (Joh 8,44), das heißt, er führte die
Sünde und damit den Tod ein. Kain setzte diese Linie fort.

Dabei liegt die Betonung nicht auf der Tatsache, dass Kain seinen Bruder ermordete, sondern auf dem Grund, warum er das tat. Das wird durch die eingeschobene Frage „Und weshalb ermordete er ihn?“ unterstrichen. Auch wird dadurch der Gegensatz zum Charakter seines Bruders Abel stärker hervorgehoben.

Die Antwort „Weil seine Werke böse waren, die seines Bruders aber gerecht“ sagt mehr aus als nur, dass Kain keinerlei Grund dazu gehabt hat, seinen Bruder gewaltsam umzubringen. Auch waren nicht nur Neid und Eifersucht dazu die Triebfeder. Sicher waren auch sie im Spiel. Aber der Zusatz, dass die Werke Kains böse, die seines Bruders aber gerecht waren, weist doch deutlich auf den Hauptpunkt der Bosheit Kains hin: Er hasste seinen Bruder. Die Unterscheidung zwischen den Werken des einen (Kain) und denen des anderen (Abel) steht in vollem Einklang mit dem geschichtlichen Bericht in 1. Mose 4,4.5 und der Erwähnung in Hebräer 11,4 (in Judas, V. 11 fehlt dieser Hinweis). Die Kinder des Teufels hassen die Kinder Gottes, hassen sie, weil sie sich durch die gerechten Werke der Letzteren in ihren eigenen bösen Werken verurteilt sehen. Das ist der Punkt, um den es geht, und daran hat sich bis heute nichts geändert.

Vielleicht wundern wir uns darüber, dass zur Illustration des Hasses auf das extreme Beispiel dieses ersten Mordes zurückgegriffen wird. Die Antwort darauf werden wir in Vers 15 finden (vgl. auch Mt 5,21.22). Es ist eben leider nur zu wahr, dass wir oft den Charakter des Bösen viel zu spät erkennen, ihn nicht eher erkennen, als bis sich das Böse in seinem ganzen Ausmaß offenbart hat.

Wir haben schon früher auf die Verbindung zwischen Gerechtigkeit und Liebe hingewiesen. Hier nun finden wir sie bestätigt, wenn auch in ihren negativen Gegenstücken: Ungerechtigkeit und Hass fanden sich in ein und derselben Person.

Dieser Vers beschließt die Erwähnung der Gerechtigkeit in diesem Brief. Es gab einen Übergang vom Gegenstand der Gerechtigkeit zu dem der Liebe (V. 10), und nun bildet Liebe den zentralen Gegenstand des Briefes, bis schließlich auch dieser von dem des Lebens abgelöst wird. Wir erinnern uns an die drei Hauptgedanken dieses Briefes: Licht – Liebe – Leben.

Dass der Hass Kains seinem Bruder gegenüber eine Veranschaulichung vom Hass der Welt den Kindern Gottes gegenüber – und nicht nur ein böser Einzelfall – ist, haben wir schon bemerkt. Der nächste Vers in unserem Text bestätigt das.

„Wundert euch nicht, Brüder, wenn die Welt euch hasst“ (V. 13).

Der Apostel gebraucht jetzt eine Anrede, die in diesem Brief nur hier vorkommt: „Brüder“. Er sagt nicht, wie zuvor: „meine Kinder“, „Geliebte“, „Kinder“. Da er weiterhin von den Familienbeziehungen und der Liebe zu den Brüdern sprechen will, ist die Anrede „Brüder“ (nicht „meine Brüder“) ganz und gar angemessen.

Die Ermahnung, uns nicht zu wundern, wenn die Welt uns hasst, würde uns nicht gegeben werden, wenn wir nicht gerade dazu neigen würden. Der Schreiber geht bei dem „Wenn“ von Realität aus, denn er benutzt das „Wenn“ einer erfüllten Bedingung: „… wenn die Welt euch hasst.“ Die Welt wird gewiss fortfahren, uns zu hassen, da die Welt eben die Welt ist. Diese Menschen sind nicht „aus Gott geboren“, sind nicht „Kinder Gottes“, sondern „Kinder des Teufels“, denn sie sind „aus dem Bösen“. Wir müssen uns also nicht wundern, wenn oder dass die Welt uns hasst. Es ist dies die Natur des Menschen, wie er ist – als unter der Macht Satans stehend.

Schon der Herr Jesus hatte von dem Hass der Welt gesprochen, und es ist bezeichnend, dass Er dabei dieselbe (als erfüllt angesehene) Bedingung gebraucht: „Wenn die Welt euch hasst, so wisst, dass sie mich vor euch gehasst hat“ (Joh 15,18). Seine weiteren Worte geben uns die Begründung für den Hass der Welt: „Weil ihr aber nicht von der Welt seid, sondern ich euch aus der Welt auserwählt habe, darum hasst euch die Welt“ (V. 19; vgl. auch Joh 17,14).

Es fällt uns auf, dass hier ein etwas anderer Grund für den Hass der Welt genannt wird als im ersten Johannesbrief. Allein die Tatsache, dass wir nicht von der Welt sind, genügt der Welt, uns zu hassen. Wir brauchen gleichsam gar nichts weiter zu tun: Ihr Hass ist uns sicher, weil wir nicht zu ihnen gehören. In unserem Brief dagegen gründet sich der Hass darauf, dass sich die Kinder der Welt durch die gerechten Werke der Kinder Gottes in ihren eigenen bösen Werken verurteilt sehen. Das liegt ganz auf der Linie dessen, was der Herr gesagt hat: „Denn jeder, der Böses tut, hasst das Licht und kommt nicht zu dem Licht, damit seine Werke nicht bloßgestellt (gestraft) werden“ (Joh 3,20).

Es bleibt noch die Frage zu klären, was Johannes an dieser Stelle mit „Welt“ meint. Offenbar liegt hier eine andere Bedeutung von „Welt“ vor als in Kapitel 2,15; denn ein System kann nicht hassen. Es sind vielmehr Menschen, die von dem Weltsystem beherrscht werden. Und wenn wir Kapitel 2,19 zu Rate ziehen, so erkennen wir, dass er im Besonderen jene Verführer im Auge hat, die die einst bekannte Wahrheit aufgegeben hatten und zu Antichristen geworden waren. Wie solche unter der Lüge Satans stehen, so teilen sie auch seinen mörderischen Geist. Sie sind ein Teil jener „Kains-Welt“, die immer mit religiösen Ansprüchen beginnt und mit Mord endet. Die Geschichte der Kirche belegt das mit vielen erschütternden Beispielen.

(Wird fortgesetzt) Ch. Briem

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2008, Heft 12, Seite 374

Bibelstellen: 1Joh 3, 11-13