Eine Herde und ein Hirte

Johannes 10

In Johannes 10 haben wir das Vorrecht, alle Personen der Gottheit in Tätigkeit zu sehen, um den Ratschluss bezüglich Christus und Seiner Schafe auszuführen:

– Der Vater sendet den Sohn (V. 36), gibt Christus die Schafe und sorgt für sie, denn sie sind in Seiner Hand (V. 29);

– der Sohn ruft die Schafe mit Namen, führt sie aus der Welt des Menschen heraus, geht vor ihnen her, gibt Sein Leben für sie und macht aus ihnen eine Herde;

– der Heilige Geist (im Bild des Türhüters) öffnet Christus die Tür, damit Seine Stimme gehört und die Schafe zu Ihm gezogen werden können.

Darüber hinaus konnte keine Macht des Feindes, kein Widerstand der Menschen und auch kein Versagen der Jünger verhindern, dass der Ratschluss Gottes ausgeführt wurde. Das ist auch heute nicht anders! Darum ist es gut für unsere Seelen, wenn wir fest im Auge behalten, dass trotz der Unruhe in der Welt, trotz des Verderbens in der Christenheit, des Widerstandes von Menschen und des Versagens auch im wahren Volk Gottes die Schafe Christi immer noch gefunden, gesegnet, durch die Wüste geführt und nach Hause in die Herrlichkeit gebracht werden.

Das Kapitel beginnt mit einem Gleichnis (V. 1), in dem der Herr an die bekannten Gebräuche von Hirten und ihren Herden in Ländern des Nahen Ostens anknüpft, um Sein eigenes Handeln in Gnade inmitten des Volkes Israel zu beschreiben. Das Volk wird mit einem Schafhof verglichen. Falsche Propheten und solche, die sich als Messias ausgaben, waren von Zeit zu Zeit aufgestanden, und hatten versucht, zu ihrem eigenen Nutzen und zu ihrer eigenen Verherrlichung Einfluss auf die Schafe zu gewinnen. Sie alle waren Diebe und Räuber. Sie kamen nicht auf dem von Gott bestimmten Weg herein – durch die Tür (V. 2). Doch schließlich kam Einer auf dem Weg, den Gott vorgezeichnet hatte, in den jüdischen Schafhof. In Ihm erfüllten sich die mancherlei Prophezeiungen über den kommenden Messias. So wurde Er zum Beispiel geboren von einer Jungfrau (wie Jesaja sagt) und zwar in Bethlehem (in Übereinstimmung mit Micha). Damit wies Er sich als der wahre Hirte aus, als der „eine Hirte“, der von Hesekiel angekündigt worden war (Hes 34,23).

„Diesem öffnet der Türhüter“ (V. 3). In diesem Türhüter können wir ein Bild des Heiligen Geistes erblicken, der durch Seine vielfältigen Zeugnisse in den Herzen der Menschen wirkte. So wurde der Weg für Christus gebahnt, „seine eigenen Schafe“ zu erreichen. Wenn der Herr sich hier als der Hirte der Schafe vorstellt, dann nicht etwa wie in Hesekiel 34, um sie von ihren Feinden zu befreien und in ihr Land einzuführen. Dafür ist die Zeit noch nicht gekommen. Israel hat Christus verworfen, und die Nation wird in ihrer Blindheit sich selbst überlassen. Deshalb wird Christus als der Hirte vorgestellt, der Seine eigenen Schafe ruft und sie aus dem jüdischen Schafhof heraus in all die Segnungen der christlichen Herde einführt. Von der Masse der jüdischen Nation, die Ihn verwarf, muss Er sagen: „Ihr seid nicht von meinen Schafen“ (V. 26). Hier wird der Herr daher gesehen, wie Er inmitten der verdorbenen jüdischen Nation mit Seinen Schafen beschäftigt ist, die keine Stimme als nur Seine kennen. – Dann erfahren wir etwas über die drei großen Tätigkeiten, die der Herr an Seinen Schafen ausübt.

Er ruft Seine Schafe mit Namen

Erstens ruft der Hirte Seine eigenen Schafe mit Namen, und sie hören Seine Stimme. Seine Stimme zu hören besagt, dass sie nicht nur die Worte des Herrn hörten, sondern dass diese Worte eine persönliche Botschaft vermittelten, die ihre Herzen erreichte. Paulus sagt in seiner Predigt in Antiochien zu den Juden, dass ihre Obersten weder Ihn erkannten noch die Stimmen der Propheten, die jeden Sabbat gelesen werden, und gerade dadurch diese Stimmen erfüllten, indem sie Ihn verurteilten (Apg 13,27). Obwohl sie also die prophetischen Worte hörten, vermittelten diese ihnen keine Botschaft. Sie hörten die eigentliche Stimme der Propheten nicht. Die Schafe aber „hören seine Stimme“, Er hat persönlichen Umgang mit ihnen. „Er ruft seine eigenen Schafe mit Namen.“ Wenn wir den Weg des Herrn verfolgen, wie er in den Evangelien aufgezeichnet ist, hören wir Ihn Seine Schafe rufen, eins nach dem anderen. Einfache Fischer wie Andreas, Simon und Philippus werden gerufen. Nathanael, „ein Israelit, in dem kein Trug ist“; Nikodemus, ein Pharisäer und Lehrer; eine in Sünde verstrickte Frau an einem Brunnen; ein hilfloser Mann am Teich von Bethesda und ein blinder Bettler am Wegesrand werden gerufen. Sie kamen aus verschiedenen sozialen Schichten, aber eines kennzeichnete sie alle: Sie hörten Seine Stimme.

Er führt sie heraus

Zweitens lässt der Hirte sie, nachdem Er sie gerufen hat, nicht im jüdischen Schafhof unter denen, die Christus verworfen haben. „Er führt sie heraus“ aus der jüdischen Nation, die dem Gericht entgegenging.

Er geht vor ihnen her

Drittens lässt Er die Schafe, nachdem Er sie herausgeführt hat, nicht allein draußen, denn wir lesen, dass Er „vor ihnen hergeht“, um sie auf dem Weg des Lebens und des Segens zu leiten (V. 4). Die Schafe ihrerseits „hören seine Stimme“, „sie folgen ihm“ und „fliehen“ vor dem Fremden, der versuchen würde, sie von ihrem Hirten wegzuziehen. Sie fliehen nicht, weil sie die Stimme des Fremden kennen, sondern weil sie sie nicht kennen (V. 5). „Es ist nicht die Kenntnis des Fremden, sondern die Kenntnis der Stimme des guten Hirten, die sie vor den Fallstricken bewahrt, die der Fremde ihnen stellen will. Sie wissen, dass diese Stimme nicht diese Stimme ist. Auf diese Weise werden die Arglosen bewahrt“ – wie ein bewährter Ausleger sagt. Wir sollen „weise sein zum Guten, aber einfältig zum Bösen“ (Röm 16,19).

So haben wir hier ein eindrucksvolles Bild einer Schafherde, die völlig vom Hirten abhängig ist. Schafe sind hilflose und schwache Tiere, immer in Gefahr abzuirren, leicht zu verängstigen und schnell zu zerstreuen. Sich selbst überlassen sind sie in einer hoffnungslosen Lage. Unter der Leitung des Hirten sind sie trotz ihrer Schwachheit sicher. Wenn sie hungrig und matt sind, ist Er da, um sie auf grüne Auen zu führen. Sind sie durstig, führt Er sie zu stillen Wassern. Müssen sie eine raue Wegstrecke zurücklegen, hilft Er ihnen hindurch. Sucht der Wolf die Schafe anzugreifen, werden sie vom Hirten beschützt. Der Hirte nimmt sich der Schafe völlig an, und die Schafe sind ganz von ihrem Hirten abhängig – „sie kennen seine Stimme“ und fliehen vor anderen. Das ist das liebliche Bild der christlichen Herde, bestehend aus Gläubigen, die außerhalb des jüdischen Lagers um Christus geschart sind.

Verfangen in ihren bisherigen Anschauungen, verstanden die Zuhörer des Herrn nicht, „was es war, das er zu ihnen redete“ (V. 6). Leider versteht auch die Christenheit (darunter viele wahre Gläubige) das Gleichnis des Herrn weithin nicht. So sind im Christentum wieder Schafhöfe nach jüdischem Muster entstanden, und wir sehen heute ein religiöses System, in dem die Schafe Christi unter der Leitung menschlicher Häupter mit Ungläubigen verbunden sind, zusammengehalten durch menschliche Verordnungen. Wenn folglich die Christenheit selbst wieder zu einem religiösen Lager nach jüdischem Muster geworden ist, gilt auch immer noch das Wort: „Deshalb lasst uns zu ihm hinausgehen, außerhalb des Lagers“ (Heb 13,13). Nur sollten wir bedenken, dass aus dem Lager hinauszugehen nicht nur bedeutet, dessen Übeln zu entkommen, sondern auch Christus den Ihm zustehenden Platz zu geben. Wir gehen „zu ihm“ hinaus. Wenn wir das Lager verlassen haben, sind wir nicht einfach eine Gruppe von Gläubigen, die ihren eigenen Vorstellungen überlassen ist, sondern wir stehen unter der Leitung Christi. Auch heute ist es immer noch möglich, außerhalb religiöser Organisationen, im Licht dieser Wahrheiten zu leben, Christus Seinen Platz als Hirten der Schafe zu geben und jede Stimme eines Fremden abzuweisen, um nur auf Christus, unseren großen Führer, zu blicken. Er ist es, der alle Weisheit, Liebe und Macht hat, um uns durch die Wüste bis nach Hause in die Herrlichkeit zu führen.

In den Versen, die nun folgen, wendet der Herr Sein Gleichnis an (V. 7.8), entfaltet die Segnungen, in die Er die Schafe einführt (V. 9), warnt uns vor Gefahren, denen wir ausgesetzt sind (V. 10-13), stellt sich selbst als die große Hilfsquelle der Schafe angesichts jedes Feindes vor (V. 14.15) und erzählt uns von den anderen Schafen aus den Nationen, die Er mit den Schafen aus den Juden zusammen zu einer Herde machen wird (V. 16).

Als Erstes wendet der Herr das Gleichnis an, indem Er uns erklärt, dass Er die Tür der Schafe ist. Gott hatte den jüdischen Schafhof errichtet, und obwohl die Menschen ihn verdorben hatten, hatte der gottesfürchtige Überrest keine Anweisung, diesen Schafhof zu verlassen, bis Christus kam. Aber als Christus kam und verworfen wurde, wandte Gott sich ab und ließ das Volk dem Gericht entgegengehen. Christus dagegen wird vorgestellt als die von Gott gesandte Rettungstür, durch die die Gottesfürchtigen aus dieser schuldigen Nation entkommen konnten. So konnte Petrus nach der Auferstehung Christi Ihn vorstellen als Den, durch den Gläubige von diesem verkehrten Geschlecht gerettet werden können (Apg 2,40).

Zweitens ist der Hirte nicht nur die Tür, durch die die Schafe aus dem verderbten jüdischen Schafhof entkommen können, sondern Er ist auch die Tür, die in die ausdrücklichen christlichen Segnungen führt. Wenn „jemand“ (Jude oder Heide) durch persönlichen Glauben an Christus in den neuen Kreis der Segnungen eintritt, die Christus zum Mittelpunkt haben, wird er Errettung finden, d. h. Errettung für die Seele von Sünden und Gericht und dann Errettung von der ganzen Macht des Feindes während der Reise durch die Wüste. Außerdem werden die Schafe in die Freiheit gebracht. Vielleicht können wir daran denken, dass sie als Anbeter in das Innere des Vorhangs „eingehen“ und mit der guten Botschaft zu der ganzen Welt „ausgehen“ können. Des Weiteren werden die Schafe unter der Leitung Christi ernährt – sie finden Weide.

Drittens warnt uns der Herr vor dem Widerstand, dem wir auf dem Weg durch diese Welt begegnen werden. Er spricht vom Dieb, dem Mietling und dem Wolf. Der Herr hatte bereits gesagt, dass der Dieb nicht durch die Tür eintritt. Er bricht heimlich und unerwartet ins Haus ein und will rauben. Später werden wir durch Judas vor „gewissen Menschen“ gewarnt, die sich im Volk Gottes „nebeneingeschlichen“ haben (Jud V. 4), und Petrus warnt vor falschen Propheten, „die Verderben bringende Sekten nebeneinführen werden“ (2. Pet 2,1). Der Mietling lehrt nicht unbedingt falsche Lehren, aber seine Beweggründe sind unredlich. Petrus warnt davor, die Herde Gottes „um schändlichem Gewinn“ zu hüten (1. Pet 5,2); er kündigt das Auftreten von Leuten an, die aus Habsucht die Gläubigen ausbeuten werden (2. Pet 2,3). Der Mietling mag behaupten, die Schafe zu hüten, aber sein wahres Motiv ist Egoismus. Deshalb denkt er, wenn Gefahr droht, nur an seine eigene Sicherheit und flieht. Der Wolf kommt im Schafspelz zu der Herde (Mt 7,15). Durch ein scheinbar redliches Bekenntnis werden die Gläubigen getäuscht. Daher warnt der Apostel Paulus uns auch, dass nach seinem Abschied Wölfe hereinkommen würden, die die Herde nicht verschonen (Apg 20,29).

Der Wolf kann die Schafe zwar nicht aus der Hand des Hirten reißen, aber er kann die Schafe verwunden und zerstreuen. Wie viel Verwüstung haben solche in das christliche Bekenntnis gebracht! Nur wenn wir Christus Seinen Platz als dem Hirten der Schafe einräumen, können wir ihrer Verwüstung entfliehen. Im Gegensatz zum Dieb, der raubt, kam Christus, um Leben zu geben und es im Überfluss und seiner ganzen Fülle zu geben. Im Gegensatz zum Mietling, der nur an sich denkt und bei drohender Gefahr flieht, gibt der gute Hirte Sein Leben für die Schafe. Er ist nicht nur der Hirte der Schafe, der sie aus dem jüdischen Schafhof absondert, sondern Er ist auch der gute Hirte, der sich für die Schafe hingibt. Diese hingebungsvolle Liebe ist darin zu sehen, dass der Herr Sein Leben gibt, um die Schafe vom Dieb und vom Wolf zu erretten.

Viertens finden wir in Christus unsere einzige Hilfsquelle angesichts allem, was auf uns zukommt. Wir haben die segensreiche Gewissheit, dass Der, der uns bis in den Tod geliebt hat, uns auch durch und durch kennt. So kann Er sagen: „Ich bin der gute Hirte; und ich kenne die Meinen.“ Er war der Gegenstand der Liebe Gottes, während Er durch diese Welt ging. Genauso sind die Schafe die Gegenstände Seiner Liebe und Fürsorge, wenn sie durch diese Wüste gehen. Wie gut, zu wissen, dass Er die Schafe kennt. Er kennt unsere Prüfungen, unsere Umstände, unsere Schwachheiten – alles ist Ihm bekannt! In ihrem geringen Maß kennen auch die Schafe den Hirten und vertrauen auf Ihn, so wie Er selbst in Vollkommenheit auf den Vater vertraute.

Fünftens öffnet der Herr dadurch, dass Er Sein Leben für die Schafe lässt, auch die Tür für Seine Schafe aus den Nationen. Seine Schafe kommen nicht nur aus dem jüdischen Schafhof – Er hat auch eine große Zahl unter den Nationen. Auch sie müssen aus der heidnischen Finsternis in die christliche Herde eingeführt werden. Auch sie hören Seine Stimme und bilden zusammen mit den Schafen aus dem jüdischen Schafhof eine Herde unter einem Hirten.

So wird uns der Herr denn vorgestellt als der „Hirte der Schafe“, der Seine Schafe von einer irdischen Religion absondert. Als der „gute Hirte“ wirkt Er in hingebungsvoller Liebe zu den Schafen, und als der „eine Hirte“ vereinigt Er die Schafe zu einer Herde. Wie Er selbst, soll auch Seine Herde abgesondert sein von einem hohlen Bekenntnis, Ihm hingegeben und mit-einander vereinigt.

Dass dieses schöne Bild des Christentums heute kaum noch gesehen wird, darf uns nicht entmutigen, sondern sollte uns anspornen. Auch heute ist es immer noch möglich, alles, was der Wahrheit entgegensteht, abzulehnen mit dem Wunsch, im Licht der Belehrungen des Herrn zu leben. Aber dazu müssen wir Ihn vor Augen behalten, den „Hirten der Schafe“, den „guten Hirten“ und den „einen Hirten“.

H. Smith

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2008, Heft 5, Seite 135

Bibelstellen: Joh 10