und ruht ein wenig aus

Unser Herr hat ein Empfinden dafür, wie uns zumute ist. So war es auch damals bei Seinen Jüngern, als Er sie an eine einsame Stätte führte, damit sie abseits vom Kommen und Gehen der Menschen etwas zur Ruhe kommen sollten (Mk 6,31). – Was für ein schönes Zeugnis Seiner Fürsorge! Keiner wusste wie Er, was sie nötig hatten.

Aber mehr noch als um die äußere Ruhe geht es dem Herrn sicher darum, dass die Seinen innerlich gestärkt und reicher gemacht werden; dass die Seele gleichsam „auf- und durchatmet“. Dazu ist die Gemeinschaft mit Ihm in solchen Augenblicken besonders wichtig. Ein Mann wie David hat das verstanden. Nicht nur in Zeiten höchster Not hat er Zuflucht genommen zum Herzen Gottes, wie zahlreiche seiner Psalmen bezeugen. Auch an einem Tag, als er überwältigt war von der Güte und Herablassung Gottes, wusste er, wo sein bewegtes Herz zur Ruhe kommen konnte. Soeben hatte Gott ihm durch den Propheten Nathan wunderbare Zusagen gegeben, für ihn selbst und seine Nachkommen bis in die ferne Zukunft:

„Da ging der König David hinein und setzte sich vor dem Herrn nieder und sprach: Wer bin ich, Herr, Herr, und was ist mein Haus, dass du mich bis hierher gebracht hast?“ (2. Sam 7,18). – Er setzte sich nieder. Diesmal ging es nicht um Bitten und Anliegen, wie man sie auf den Knien vorbringt, sondern um Gemeinschaft. David wollte das, was sein Herz bewegte, mit Gott teilen, mit Ihm Zwiesprache halten. Durch den Propheten hatte Gott zu David geredet, und nun redet David zu Gott. „Wer bin ich, Herr?“ Diese Selbsteinschätzung verherrlicht Gott und ehrt zugleich David, denn darin gibt er alle Ehre Gott. Alles Streben und Begehren, auch das beste und segensreichste, ist zur Ruhe gekommen, und das Herz genießt nur noch die Gnade Gottes. Es „ruht aus“.

David fährt fort: „Darum bist du groß, Herr, Gott! Denn niemand ist dir gleich, und kein Gott ist außer dir, nach allem, was wir mit unseren Ohren gehört haben“ (V. 22). Das ist die Einschätzung, die David Gott entgegenbringt, das „Gottesbild“, das er in sich trägt, um einmal diesen Ausdruck zu gebrauchen. Seine Begründung greift weit zurück. „Alles, was wir mit unseren Ohren gehört haben“, das umfasst mindestens die machtvolle Errettung Israels aus Ägypten, die ja selbst unter den heidnischen Götzendienern „gehört“ worden war und sie in Furcht versetzt hatte (Jos 2,10). Doch sicher dürfen wir auch an die Erwählung Abrahams und seiner Nachkommen als Volk Gottes
denken sowie an die Schöpfer-Herrlichkeit Gottes, die seit alters schon durch mündliche Überlieferung verkündet wurde.

So gehen denn auch Davids Gedanken weiter von Gott auf das Volk Gottes: „Und wer ist wie dein Volk, wie
Israel, die einzige Nation auf der Erde, die Gott hingegangen ist, sich zum Volk zu erlösen … und für sie so Großes zu tun und furchtbare Dinge für dein Land …“ (V. 23). Wer hohe Gedanken über Gott hat, denkt auch hoch von Gottes Volk – und das auf dem Hintergrund demütiger Gedanken über sich selbst.

Vielleicht gibt uns das Anlass, auch uns selbst einmal zu fragen, was für Vorstellungen wir in uns tragen – über uns selbst, über Gott und über Sein Volk.

„Wer bin ich, dass du mich bis hierher gebracht hast?“ Darüber muss nicht viel gesagt werden. Alles ist Gnade, alles Erbarmen, nichts ist uns zuzuschreiben, wenn wir bis hierher gekommen sind. Die Frage ist nur, ob wir auch wirklich in diesem Bewusstsein leben und handeln.

Doch aus welchem Blickwinkel sehen wir unseren Herrn? Der Knecht mit dem einen Talent im Gleichnis von Matthäus 25 sagt: „Ich kannte dich, dass du ein harter Mann bist“ (V. 24), und bewies dadurch nur, dass er ihn überhaupt nicht kannte. Sonst hätte er das Geld den Wechslern gegeben, damit der Zinsertrag die angebliche „Härte“ seines Herrn etwas gemildert hätte. Natürlich wird niemand von uns sich im Bild dieses Knechtes sehen wollen; der endete in der „äußersten Finsternis“, und das kann ja keinem Gläubigen passieren. Aber die Frage bleibt: Wie sehen wir unseren Herrn? Seinen zaghaften Jüngern, die Ihn so oft nicht verstanden, sagt Er: „Ihr aber seid es, die mit mir ausgeharrt haben in meinen Versuchungen“ (Lk 22,28). Nein, ein solcher Herr ist kein „harter Mann“!

Sollte das nicht deutlicher unser Denken und Reden über Ihn prägen? Wie leicht geschieht es, dass angesichts der Mängel und Nöte im Volk Gottes der Gedanke an Seine herzgewinnende Liebe, Seine Gnade und die aufbauende Wirkung Seiner Gegenwart in den Hintergrund gerät – dass gleichsam ein düsteres Gottesbild sich wie ein Schleier über unsere Verkündigung legt. Wovon ist die Rede? Von Ausharren, Gehorsam, Züchtigung? Ja, wir haben allen Grund, uns zu demütigen, wo wir versagt haben, aber – wie einmal ein geschätzter Diener des Herrn sagte – „Beugung, so nötig sie ist, gibt an sich keine Kraft; nur die Freude am Herrn ist unsere Stärke“. Und vergessen wir auch nicht, dass das Herz des Propheten Elia in seiner Krise weder durch den Sturm noch durch das Erdbeben, noch durch das Feuer gewonnen wurde, sondern durch den „Ton eines leisen Säuselns“ (1. Kön 19,11.12).

Was nun das Volk Gottes betrifft, so gibt es wohl keine höhere Sicht als die, dass Gott sich „seine Versammlung erworben hat durch das Blut seines Eigenen“ (Apg 20,28). Sein eigener, geliebter Sohn, diese Gabe, die Er für sie gegeben hat, ist das Maß der Wertschätzung, die Er ihr entgegenbringt. Denken auch wir immer daran, dass „mein Bruder“ einer ist, „für den Christus gestorben ist“ (Röm 14,15) – und meine Schwester ebenso? Was für ein edles, heiliges Band umschließt doch alle Gläubigen!

„Gesegnet sei das Band, das uns im Herrn vereint.

Geknüpft durch Christi Liebeshand,

bleibt’s fest, bis Er erscheint.“

E. E. Hücking

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2008, Heft 1, Seite 1

Bibelstellen: Mk 6, 31