Beförderung? – Kein Bedarf!

Richter 9,1-21

Die Vorgeschichte

Zur Zeit des Ereignisses, das in Richter 9,1-21 berichtet wird, war Israel aus der Knechtschaft Ägyptens erlöst; es war durch die Wüste geleitet und in das verheißene Land eingeführt worden. Gott hatte sie dorthin gebracht; das hatte Josua ihnen in Erinnerung gerufen und sie zugleich ermahnt, „den Herrn zu fürchten und ihm zu dienen in Vollkommenheit und in Wahrheit“ (Jos 24,14).

Doch Josua und die Führer waren dahingegangen, und es folgte der Verfall. Das Volk blieb nicht in der Furcht und dem Dienst des Herrn. Daraufhin wurden sie durch Feinde von innen und von außen bedrängt. Sie wurden „bedrückt mit Gewalt“, sie „verarmten sehr“ und „wurden sehr bedrängt“. Und doch haben sie anscheinend aus alledem nichts gelernt oder nach einem Grund geforscht, warum sie in solchem Unglück waren. Sie vergaßen die Hilfsquelle aller wahren Gläubigen, für die es nur einen Gott gibt, einen Richter oder Befreier.

Aus dem sechsten Kapitel des Buches der Richter erfahren wir, dass Gott die Israeliten infolge des Bösen, das sie vor Seinen Augen taten, 7 Jahre lang in die Hände der Midianiter gab, und dass diese alles verdarben, was Israel gesät hatte, so dass Israel „sehr verarmte wegen Midian“. Da schrien sie zu dem Herrn ihretwegen.

Als Antwort auf ihr Schreien sandte Gott einen Propheten, der ihnen klar machte, dass sie so litten, weil sie Seiner Stimme nicht gehorcht hatten. Zugleich erweckte Er ihnen Gideon als Richter, der sie aus der Hand der Midianiter rettete, so dass das Land sich erholte und der Feind vertrieben wurde. „Und das Land hatte in den Tagen Gideons vierzig Jahre Ruhe“ (Ri 8,28). Leider versagte Gideon dadurch, dass er in seiner Heimatstadt Ophra ein Ephod errichten ließ, das aus dem Gold der Siegesbeute angefertigt war und ein Andenken an den Sieg sein sollte, den Gott ihm für Israel gegeben hatte. Aber „es wurde Gideon und seinem Haus zum Fallstrick“, denn das Herz des Volkes wandte sich diesem Ephod zu und nicht mehr dem Herrn (Ri 8,27). Alles, was nach Art eines Denkmals zu Ehren des Sieges des Herrn auf der Erde aufgerichtet wird, ist nicht von Ihm, denn Er selbst bleibt das ewige Zeugnis über sich selbst und alles, was Er getan hat!

Gideons Nachfolger Abimelech ist von jenem Ehrgeiz geprägt, der auf die Errichtung einer zentralen Autorität auf der Erde abzielt und entschlossen ist, alles, was im Wege steht, zu beseitigen. So erkennt man es an den ganz rücksichtslosen Mitteln, die er anwendet, um die 70 Söhne Gideons zu beseitigen: Alle wurden umgebracht außer Jotham, dem jüngsten, der nicht bei ihnen war, weil er sich versteckt hatte.

Das Gleichnis Jothams

An dieser Stelle nun haben wir das Zeugnis Jothams vom Berg Gerisim aus (V. 7), und in seinem Gleichnis finden wir vieles, was auch für uns heute lehrreich ist:

Die Bäume wollten einen König haben. Aber warum? Gott hatte sie doch alle erschaffen; warum Gottes Ordnung ändern?

Zuerst fragen sie den Olivenbaum, aber der ist zufrieden mit Gottes Ordnung. Er stellte Israel in seiner Stellung des Vorrechts dar. „Sollte ich meine Fettigkeit aufgeben, die Götter und Menschen an mir preisen?“ Die Fettigkeit des Ölbaums ist das Öl, das man aus seinen Früchten presst und das bei gottesdienstlichen Handlungen eine bedeutende Rolle Gott und Menschen gegenüber spielte (s. Anmerkung zu V. 9).

Der Geist Gottes möchte im Volk Gottes im täglichen Leben eine Wesensart hervorrufen und gestalten, die mit der Verheißung und der Absicht Gottes zu der jeweiligen Zeit übereinstimmt. Bei den Patriarchen betraf Seine Berufung Einzelpersonen, bei Israel eine Nation, und in der Zeit der Versammlung umfasst sie eine Gesamtheit. Die „Fettigkeit“ davon im Menschen, also ihre Auswirkung, ehrt Gott und bedeutet Kraft zum Gottesdienst und zum Dienst Menschen gegenüber. Gläubige, die dieses höchste aller Vorrechte verstehen, brauchen keine Beförderung. Ihnen genügt es, das zu sein, wozu Gott sie gemacht hat.

Die Bäume fragen nun den Feigenbaum. Auch der Feigenbaum gibt sich mit Gottes Ordnung zufrieden. „Sollte ich meine Süßigkeit aufgeben und meine gute Frucht, und sollte hingehen, um über den Bäumen zu schweben?“ Es ist unsere Verantwortlichkeit, mit Gottes Berufung und Seiner gegenwärtigen Absicht in Übereinstimmung zu sein. Wenn wir unserer gegenwärtigen Berufung entsprechen, bringt das Süßigkeit und Frucht hervor. Das muss man schmecken, um es zu kennen. Es gibt nichts Feineres als die inneren Wesenszüge, die durch das gegenwärtige Zeugnis Gottes hervorgerufen werden – die Gedanken Gottes für die heutige Zeit zu verstehen und auszuleben. Und ebenso kostbar ist die Frucht, der äußere Beweis für die Gnade im Innern. Die Verantwortlichkeit ergreifen und ihr entsprechend handeln – Gläubige, die das verstehen, brauchen keine Beförderung; sie sind zufrieden mit Gottes Ordnung.

Dann fragen die Bäume den Weinstock. Der Weinstock ist eine niedrige Pflanze, abhängig und anhänglich. Auch er gibt sich zufrieden mit Gottes Ordnung. „Sollte ich meinen Most aufgeben, der Götter und Menschen erfreut, und sollte hingehen, um über den Bäumen zu schweben?“ Er bringt Wein hervor und hat seinen Platz darin, dass er Gott und Menschen erfreut. Christus, der demütige Mensch nach dem Wohlgefallen Gottes, der wahre Weinstock, der Frucht für den Vater bringt, tat allezeit das Ihm Wohlgefällige. So auch Gläubige, die in Christus bleiben, von Seinem Leben durchströmt sind, von Seiner Liebe genährt werden, bringen in aller Stille dieses Leben durch Frucht zum Ausdruck. Sie haben Liebe zueinander und sind ein Zeugnis der Welt gegenüber. Was für eine wunderbare Stellung, die uns Zufriedenheit mit unserem glücklichen Los gewährt, so dass wir nichts an Beförderung von der Welt begehren, in der Christus gehasst wurde und wird.

Schließlich fragen die Bäume den Dornstrauch. In ihrer Verstocktheit und trotz der wiederholten Abfuhr sind sie immer noch entschlossen, einen König zu begehren. Nun erfahren sie, dass Gott ihnen im Zorn einen solchen geben und in Seinem Grimm ihn wieder wegnehmen kann. Der, auf den ihre Wahl fällt, wird sich als einer der niederträchtigsten von allen erweisen. Nur dadurch, dass die Bäume sich selbst herabwürdigen, können sie den Dornstrauch als Autorität über sich anerkennen, und genau das verlangt er in diesem Gleichnis. Er ist zu unbedeutend und armselig, um in seiner eigenen Kraft und Würde dazustehen, aber er will sich sehr gern erheben, wenn andere sich ihm unterwerfen. Der Teufel selbst wird eines Tages einen Menschen – den politischen Antichristen – als Strohmann seiner eigenen Begierden auf den Thron erheben, indem er ihm „seine Macht und seinen Thron und große Gewalt gibt“, und doch ist er in dem Bild, das Gott zeichnet, nur ein „Tier“ (Off 13). Und was ist das Ergebnis? Nur die Zerstörung des Strohmannes und aller, die auf ihn vertrauen, und die endgültige Verwirrung und der Sturz Satans selbst. Auch die Leute von Sichem in unserem Kapitel erfahren auf die Dauer, dass ihre eigene Wahl ihr Leid und ihre Strafe wird.

Die Lektion für uns in all diesem ist, dass weder der Gläubige noch Gottes Volk, wenn sie mit Gott leben, Beförderung nötig haben. Leben, Charakter und Dienst des Gläubigen, wenn er ruhig in dem Bereich vorangeht, den Gott ihm bestimmt hat, empfehlen sich selbst. Ehrgeiz – außer zur Ehre Gottes – lässt ihn kalt. Aber jemand, der ungöttlich ist und sich selbst im Mittelpunkt sieht, wird gern die Schmeichelei törichter Menschen entgegennehmen und sich zu einer beherrschenden Stellung über sie erheben, die nur dem Hochmut vergleichbar ist, der vor dem Fall kommt. Christus dagegen erniedrigte sich selbst. Darum hat Gott Ihn auch hoch erhoben.

W. H. Westcott

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2009, Heft 11, Seite 321

Bibelstellen: Ri 9, 1-21