Christus, gesehen in den Seinen

Johannes 15,9-17

In den letzten Unterredungen des Herrn mit Seinen Jüngern gibt es eine fortschreitende Entfaltung der Wahrheit, die die Jünger darauf vorbereitet, dass das irdische jüdische System, mit dem sie verbunden gewesen waren, beiseite gesetzt werden würde. Stattdessen sollte es eine neue, christliche Schar geben, die in ihrem Ursprung und ihrer Bestimmung himmlisch sein würde. Dennoch sollte sie noch eine Zeit lang in der Welt verbleiben, um Christus, den Menschen in der Herrlichkeit, hier darzustellen.

Bei den Aussprüchen des Herrn tun wir gut daran, die zwei großen Tatsachen im Auge zu behalten, die der ganzen Lehre Seiner Abschiedsworte zugrunde liegen: Erstens die große Tatsache, die uns wiederholt vorgestellt wird, dass Er im Begriff stand, die Welt zu verlassen, um einen neuen Platz einzunehmen als Mensch im Himmel; zweitens die Tatsache, dass eine göttliche Person – der Heilige Geist – vom Himmel zur Erde kommen würde. Als Folge davon würde auf der Erde eine Schar von Gläubigen zu finden sein, die sowohl mit Christus in der Herrlichkeit als auch miteinander durch den Heiligen Geist verbunden sind. An diese neue Schar, damals dargestellt durch die Jünger, wendet sich der Herr in diesen letzten Worten.

Zunächst hatte Er den Jüngern Seinen Herzenswunsch eröffnet, dass sie in einer Welt, in der Er nicht mehr zu sehen sein würde, Frucht bringen sollten, die Seinem eigenen Wesen entspricht. Jetzt zeigt Er ihnen, dass diese Frucht nur in Gemeinschaft mit anderen zu finden ist, denn viele der Tugenden Christi können kaum durch einen Jünger für sich allein dargestellt werden. Langmut, Milde, Gütigkeit und andere Wesenszüge Christi können doch nur ihren praktischen Ausdruck finden, wenn wir in Gemeinschaft mit anderen sind. Im Eingangsvers von Johannes 13 erfahren wir, dass es während der Abwesenheit Christi solche gibt, die er „die Seinen“ nennt und die Er liebt „bis ans Ende“. Was auch kommen mag, über alle Zeiten und Ereignisse hinweg, das Eine bleibt: Er liebt die Seinen. Selbst wenn sie äußerlich zerrüttet und zerstreut sind, bleiben sie für Sein Auge „die Seinen“. „Der Herr kennt die sein sind“ (2. Tim 2,19). Was für ein Glück für solche Gläubigen, die gern in Gemeinschaft mit den „Seinen“ sind! Wenn Christus persönlich auf der Erde wäre, würden wir alle gern in Gemeinschaft mit Ihm sein. Jetzt aber, während Er fort ist, werden wir doch sicher bei denen sein wollen, die etwas von Seinem Wesen zum Ausdruck bringen. Wenn wir inmitten aller Verwirrung in der Christenheit noch immer einige finden können, die ohne jeden Dünkel moralisch etwas von Christus darstellen, werden diese doch sicher sehr anziehend sein für ein Herz, das Christus liebt, während die religiösen Systeme, in denen so viel vom Menschen und so wenig von Christus zu finden ist, ihre Anziehungskraft verlieren.

Wie wichtig also, dass wir ernstlich Acht geben auf eine Stelle, die uns die großen Wesenszüge derer darlegt, die während der Abwesenheit Christi Seine Versammlung bilden! Wenn wir von dieser Schar sprechen, müssen wir uns davor hüten, sie einerseits auf eine begrenzte Zahl von Gläubigen einzuengen oder anderseits solche einzubeziehen, die nicht Sein sind.

Verse 9 und 10

Das erste und bedeutendste Kennzeichen aller wahren Christen ist die Liebe Christi. Christus hat die Versammlung geliebt und sich selbst für sie hingegeben. In der Welt mögen sie so gut wie unbekannt sein – oder wenn bekannt, dann verachtet und gehasst -, aber sie sind von Christus geliebt. Und Seine Liebe ist so tief, dass sie nur gemessen werden kann an der Liebe des Vaters zu Christus. Der Vater hatte auf Christus als Menschen auf der Erde herabgeschaut und Ihn mit der ganzen Vollkommenheit göttlicher Liebe geliebt. Und jetzt schaut Christus von der Herrlichkeit aus auf die Seinen in dieser Welt, und durch die geöffneten Himmel strömt die Liebe Christi auf sie herab.

Und solchen sagt der Herr: „Bleibt in meiner Liebe.“ Sowohl ihr Genuss an ihren Segnungen wie auch die Kraft ihres Zeugnisses hängen davon ab, ob sie im bewussten Empfinden der Liebe Christi bleiben. Jene anderen ernsten Worte des Herrn, die sich später an die Versammlung in Ephesus richten: „Du hast deine erste Liebe verlassen“, deuten den ersten Schritt auf dem Weg an, der zum Verfall und zur Zerstreuung der Gläubigen auf der Erde führt. Am Ende steht dann das Aufhören eines vereinten Zeugnisses von Christus, wie es in der Kirchengeschichte immer wieder geschehen ist: Der Leuchter wird weggenommen (vgl. Off 2,4.5). Daher, wo irgend solche sind, die den Worten des Herrn nachkommen und in Seiner Liebe bleiben möchten, lass sie Acht geben auf die Anweisungen des Herrn, denn Er zeigt den Weg. Wir können nur in dem Maß in Seiner Liebe bleiben, wie wir den Pfad des Gehorsams gehen: „Wenn ihr meine Gebote haltet, so werdet ihr in meiner Liebe bleiben.“ Ein Kind, das im Ungehorsam seinem eigenen Willen folgt, gibt nicht viel um die Liebe seiner Eltern und genießt sie nicht. So werden auch wir als Christen nur so weit den Genuss der Liebe des Herrn bewahren, wie wir im Gehorsam Seinem offenbarten Willen folgen.

Mit Recht ist gesagt worden, dass wir uns in der Liebe Christi genauso erhalten, wie man im Sonnenschein bleibt, wenn man sich dort aufhält, wo die Sonne scheint. Die Liebe Christi ruht auf dem Weg des Gehorsams und scheint entlang dem Pfad Seiner Gebote. Das Halten Seiner Gebote schafft nicht die Liebe, ebenso wenig wie das Gehen an sonnigen Stellen den Sonnenschein schafft. Deshalb die Ermahnung, die Liebe nicht zu suchen, zu verdienen oder zu erlangen, sondern darin zu bleiben. Der Herr selbst war das vollkommene Beispiel eines solchen, der den Pfad des Gehorsams ging, denn Er konnte sagen: „… wie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe.“

Vers 11

Das zweite große Kennzeichen wahrer Christen ist „Freude“; aber es ist die Freude Christi. Der Herr kann sagen: „Dies habe ich zu euch geredet, damit meine Freude in euch sei und eure Freude völlig werde.“ Hier geht es nicht um rein natürliche Freude und noch weniger um die Freude der Welt. Es ist die Freude Christi, eine Freude, die hervorging aus dem ununterbrochenen Empfinden und dem Genuss der Liebe des Vaters. Zwar gibt es auch irdische Freuden, die Gott gestattet und die je nach Zeit und Ort ganz recht sind, aber solche Freuden werden uns enttäuschen. Im Innern des Gläubigen jedoch gibt es eine Quelle der Freude, die ins ewige Leben quillt und nie versiegen wird. Deshalb kann der Herr von Seiner Freude sagen, dass sie in uns „bleiben“ kann. Das ist wirklich eine Freude, die die vorübergehenden Freuden der Zeit überdauert – die Freude, die bleibt. Sie hat ihre Quelle in der Liebe das Vaters und ist ebenso „bleibend“ wie die Liebe, aus der sie entspringt.

Zudem kann der Herr von dieser Freude sagen: „Sie wird in euch sein.“ Und weil sie in uns ist, ist sie nicht abhängig von äußeren Umständen wie die Freude dieser Welt. Der Psalmdichter konnte sagen: „Du hast Freude in mein Herz gegeben, mehr als zur Zeit, als es viel Korn und Most gab“ (Ps 4,8). Irdische Freuden sind abhängig vom Gedeihen in den äußeren Umständen; die Freude, die der Herr gibt, ist im Herzen. In Seinen äußeren Umständen war Er ein Ausgestoßener und Einsamer – der „Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut“. Auf Seinem Weg des vollkommenen Gehorsams dem Willen des Vaters gegenüber hatte Er ständig die Liebe des Vaters vor Augen, und in dieser Liebe fand Er die beständige Quelle der Freude. So werden auch wir, solange wir im Gehorsam dem Herrn gegenüber leben, stets Seine Liebe vor Augen haben. Und im Sonnenschein Seiner Liebe werden wir nicht nur Seine Freude finden, sondern eine Fülle von Freude, die keinen Raum lässt, über das Versagen alles Irdischen zu trauern.

Verse 12 und 13

Ein drittes Kennzeichen der Verbindung der Gläubigen mit Christus ist die Liebe. Sie sind nicht nur geliebt, sondern erweisen auch selbst Liebe, denn das ist das Gebot des Herrn: „Dies ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, wie ich euch geliebt habe.“ Diese Liebe folgt nicht einem menschlichen Beispiel, sondern wird mit keinem geringeren Maß gemessen als der Liebe des Herrn zu uns, in der es keinerlei Eigenliebe gibt, denn der Herr kann sagen: „Größere Liebe hat niemand als diese, dass jemand sein Leben lässt für seine Freunde.“ Hier wird Sein Tod nicht in seinem sühnenden Charakter gesehen, sondern als höchster Ausdruck der Liebe. Irdische Liebe wird oft hervorgerufen durch etwas Liebenswertes bei demjenigen, dem sie gilt. Göttliche Liebe aber erhebt sich über alle unsere Schwachheiten und unser Versagen und erweist sich wirksam trotz so vielem, was nicht liebenswert ist. Von solcher Art ist die Liebe Christi, und ebenso ist die Liebe, die wir zueinander empfinden sollten. Eine solche Liebe ist nicht gleichgültig gegenüber Fehlern und Mängeln, aber indem sie sich über alles erhebt, was nicht liebenswert ist, dient sie demjenigen, dem sie gilt, bis zum größtmöglichen Opfer: das Leben für einen Freund hinzugeben. Jemand hat gesagt: „Es kann kein größerer Beweis der Liebe gegeben und kein höherer Maßstab angelegt werden.“

Verse 14 und 15

Als Viertes sind die Gläubigen solche, denen Christus Sein Vertrauen geschenkt hat. Er hat ihnen Seine vertrauten Gedanken und die verborgenen Ratschlüsse des Herzens Gottes mitgeteilt. Der Herr behandelt die Seinen nicht bloß als Knechte, denen Anweisungen gegeben werden, sondern als Freunde, denen Geheimnisse anvertraut werden, denn Er kann sagen: „Alles, was ich von meinem Vater gehört habe, habe ich euch kundgetan.“ Es ist zwar nicht so, dass die Jünger keine Knechte Jesu Christi wären (2. Pet 1,1; Jud V. 1; Röm 1,1). Aber sie waren noch mehr als Knechte; sie waren Freunde, und das Vorrecht, Knecht zu sein, ist zwar groß, aber das Vorrecht, Freund zu sein, ist größer. Der Knecht an sich „weiß nicht, was sein Herr tut“. Er kennt nur die Aufgabe, die ihm zugeteilt ist, und empfängt die nötigen Anweisungen für die Ausführung. Aber der Knecht, der als Freund behandelt wird, weiß mehr; ihm wird die verborgene Absicht seines Herrn mitgeteilt, für den das Werk unternommen wird. Und mehr noch, mit einem Freund sprechen wir über unsere Angelegenheiten in dem Bewusstsein, dass sie für ihn von höchstem Interesse sein werden, auch wenn sie ihn selbst nicht direkt betreffen. So handelte Gott mit Abraham, dem Mann, der Freund Gottes genannt wird. Er sagt: „Sollte ich vor Abraham verbergen, was ich tun will?“ Aber auch hier sehen wir, dass Gehorsam gegenüber den Geboten des Herrn die Stellung eines Freundes verleiht, so wie er zuvor den Genuss der Liebe sicherstellt. Wir werden wenig von den Ratschlüssen des Herzens Gottes wissen, wenn wir nicht im Gehorsam gegenüber den Geboten des Herrn leben. Sind wir aber auf dem Weg des Gehorsams, dann behandelt der Herr uns als Freunde durch die vertraulichen Mitteilungen, in die Er uns einweiht, indem Er alles mitteilt, was Er vom Vater gehört hat.

Vers 16

Fünftens sagt der Herr von den Seinen, dass Er sie auserwählt hat: „Ihr habt nicht mich auserwählt, sondern ich habe euch auserwählt.“ Die Wahl hat Er getroffen, nicht wir. Was für ein Segen, dass es so ist! Hätten wir in einem Augenblick der Begeisterung den Herrn als unseren Meister erwählt, um hinzugehen und Frucht zu bringen, dann würden wir uns unter dem Druck der Umstände längst wieder zurückgewandt haben. Die Freiwilligen, die zu Zeiten dem Herrn begegneten, empfingen nur wenig Ermunterung und gingen nur ein kurzes Stück mit Dem, der nicht hatte, wo Er Sein Haupt hinlege, und stets von den Menschen abgelehnt wurde. Aber von denen, die Er berief, konnte Er sagen: „Ihr aber seid es, die mit mir ausgeharrt haben in meinen Versuchungen“ (Lk 22,28). Hier geht es nicht um die unumschränkte Auserwählung zum ewigen Leben, sondern um die Liebe, die uns erwählte und dazu bestimmte, auf der Erde Frucht zu bringen, und zwar eine bleibende Frucht. Das sehen wir in beglückender Weise erfüllt in den Aposteln, denn die Gnadenerweise Christi, die in ihrem Leben zum Ausdruck kommen, haben sie zu Vorbildern der Herde für alle Zeiten gemacht.

Schließlich ist es das Vorrecht wahrer Christen, dass sie beten und Zugang zum Vater haben im Namen Christi. Im Genuss der Liebe Christi und als Seine Freunde bekannt mit Seinen vertraulichen Mitteilungen, werden sie so unterwiesen sein in Seinen Absichten, dass der Vater ihnen alles geben kann, was sie im Namen Christi von Ihm erbitten.

Das also sind die, die der Herr die Seinen nennt. In Verbindung mit ihnen kann Er Worte gebrauchen wie „meine Liebe“, „meine Freude“, „meine Gebote“, „meine Freunde“, „mein Vater“ und „mein Name“. Und hier findet man auch, wie jemand gesagt hat, die Entfaltung der „ganzen Geschichte der Liebe in der Liebe des Vaters zum Sohn, der Liebe Jesu zu Seinem Volk, der Liebe der Seinen zueinander – wobei jede Stufe sowohl die Quelle als auch der Maßstab für die nächste ist“.

Das Bild der Christen, das hier vom Herrn gezeichnet wird, ist in der Tat sehr schön. Aber leider suchen wir vergebens einen allgemeinen Ausdruck davon unter seinem Volk. Jedoch, getrennt und zerstreut wie wir sein mögen, lasst uns nicht unseren Wandel nach irgendeinem niedrigeren Maßstab richten, sondern der Absicht des Herrn zu entsprechen suchen.

Vers 17

„Dies“, wovon der Herr gesprochen hat, begann mit der Liebe Christi zu den Seinen; das Ende ist, die Jünger in Liebe miteinander zu verbinden. So wird uns verständlich, wie passend die Worte des Herrn sind: „Dies gebiete ich euch, dass ihr einander liebt.“

H. Smith

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2009, Heft 5, Seite 142

Bibelstellen: Joh 15, 9-17