Die Frau, die nicht aufgab

(Matthäus 15,21-28; Markus 7,24-30)

In Galiläa wirkte Jesus viele Wunder. Angesichts dieser Entfaltung göttlicher Gnade hatten die Pharisäer und Schriftgelehrten nichts anderes zu tun, als dem Herrn vorzuhalten, dass Seine Jünger sich vor dem Essen nicht die Hände wuschen (Mt 14,34 – 15,9). Er zeigte daraufhin, dass der Mensch nicht durch äußere Dinge, sondern durch sein eigenes Herz moralisch verunreinigt wird. Dieses Herz ist voller Sünde. Gottes Herz jedoch ist voller Gnade. Das zeigt die Heilung der Tochter einer Frau aus der Gegend von Tyrus und Sidon auf eindrucksvolle Weise.

Der Herr Jesus zog sich aus Galiläa zurück und ging in das Grenzgebiet von Tyrus und Sidon. Soweit wir wissen, ist Er nie weiter nach Norden gezogen als bis hierhin. Von dem, was Er hier gewirkt hat, wird uns nur die Heilung dieses einen Mädchens berichtet. Wohl waren bei anderer Gelegenheit ganze Scharen von dort zu Ihm nach Galiläa gekommen, um Heilung zu finden (Mk 3,8), aber jetzt steht nur dieses eine Ereignis im Mittelpunkt. Vielleicht sollen wir daran erinnert werden, dass dem Herrn kein Weg zu weit ist, wenn es um das Heil der Menschen geht – und dass Er auch an jedem von uns ein liebendes Interesse hat, wenn wir in Not sind.

Übrigens hat im Norden, und zwar bei Cäsarea-Philippi, fern von Jerusalem, dem Zentrum des Judentums, auch Petrus seinen denkwürdigen Ausspruch getan: „Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“ (Mt 16,13.16). Die Gegend hat also durchaus ihre Bedeutung im Leben des Herrn.

Die Frau begegnet Jesus

Dem Heiland öffnete sich auch in dieser Gegend, die zu Phönizien gehörte (damals einem Teil von Syrien), ein Haus (Mk 7,24). Er wollte, dass niemand erfahre, dass Er dort sei. Doch schnell machte es die Runde, dass Jesus gekommen war, denn viele kannten Ihn ja (Mk 3,8). Die Kunde von Ihm drang auch sogleich zu einer Frau von syro-phönizischer Abstammung, die in der griechischen Sprache und Kultur verwurzelt war. Diese Frau hatte eine junge Tochter, die von einem unreinen Geist gequält wurde (Mk 7,26).

Die Frau ließ ihre Tochter zurück, um Jesus zu begegnen. Als sie Ihn traf, hatte Er das Haus offenbar bereits verlassen. Sie schrie verzweifelt: „Erbarme dich meiner, Herr, Sohn Davids! Meine Tochter ist schlimm besessen“ (Mt 15,22). Sie sagte nicht: „Erbarme dich meiner Tochter“, oder „Erbarme dich unser“ (vgl. Mk 9,22). Nein, sie machte die Not ihrer Tochter zu ihrer eigenen und bat deshalb um Erbarmen für sich selbst.

Liegt dir die Sorge um ein Kind – oder um eine andere geliebte Person – bleischwer auf dem Herzen? Ist das Leid anderer dein eigenes geworden? Dann ruf zum Herrn, dass Er sich deiner erbarmen möge.

Der Herr antwortet nicht

Wie reagierte der Herr auf den Hilferuf der Frau, die zu Seinen Füßen lag? Er antwortete ihr nicht ein einziges Wort (Mt 15,23). War das nicht hart? An ihrem Anliegen kann es nicht gelegen haben, denn der Herr ging umher, wohltuend und alle heilend, die vom Teufel überwältigt waren. Das Problem war die Anrede „Sohn Davids“. Anderen wurde zwar geholfen, die ihn so ansprachen (z. B. Mt 9,27; 20,30-31); doch das waren Juden. Und nur die Juden hatten eine Verbindung zum Sohn Davids, der der König Israels ist. Das hatte diese Frau noch nicht verstanden. Als Kanaaniterin hatte sie kein Anrecht am Messias Israels.

Es schien so, als habe Jesus diese Frau abgewiesen. In Wahrheit hatte Er sie durch Sein Schweigen unterwiesen. Sie sollte ihren Platz als Heidin verstehen und einnehmen.

Wenn der Herr auf unsere Bitten nicht reagiert, dann will er vielleicht auch uns eine wichtige Lektion erteilen, wie zum Beispiel das Ausharren im Gebet (Lk 18,1). Wir wollen deshalb nicht ermatten. Sicher dürfen wir Ihn aber auch bitten, uns den Grund für Sein Schweigen verstehen zu lassen.

Warum antwortet Er nicht?

Die Frau gab nicht auf, sondern folgte dem Herrn und Seinen Jüngern um Hilfe schreiend nach (Mt 15,23). Die Jünger baten ihren Meister, die lästige Ruferin fortzuschicken. Einige Zeit vorher hatten sie denselben Wunsch geäußert, als sie nicht wussten, was sie mit den hungrigen Menschenmengen machen sollten (Mt 14,15). Doch Er wollte die Volksmenge nicht fortschicken, weder bei dieser Gelegenheit noch bei einer späteren (Mt 15,32). Und Er wollte auch diese Frau, die an Seine Barmherzigkeit appelliert hatte, nicht entlassen. So jemand schickt der Herr nicht ohne Segen weg. Er konnte aber nicht auf sie eingehen, weil sie Ihm auf einer falschen Grundlage begegnet war. Jesus erklärte Seinen Jüngern, warum Er nicht half, und sagte: „Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt“ (Mt 15,24).

Die Frau muss diese Worte gehört haben, und es war ihr klar, dass sie nicht zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel zählte. Aber ließ sie das Wort „verloren“ nicht aufhorchen? Wenn die Schafe des Hauses Israel verloren waren, dann waren sie auf Gnade, auf unverdiente Gunst, angewiesen. Gab es auf dieser Basis nicht auch Hoffnung für eine Verlorene aus den Heiden? Noch einmal fällt sie Jesus zu Füßen und ruft: „Herr, hilf mir“ (Mt 15,25). Das „Sohn Davids“ lässt sie diesmal weg.

„Kinder“ und „Hunde“

Nachdem sie Ihn so angeredet hat, spricht der Herr Jesus mit ihr: „Lass zuerst die Kinder gesättigt werden, denn es ist nicht schön, das Brot der Kinder zu nehmen und es den Hunden hinzuwerfen“ (Mk 7,27).

Was Er mit diesem Vergleich sagen will, ist klar: Wenn in einer Familie die Kinder am Tisch sind und die Haustiere auf einen Bissen lauern, dann haben die Kinder jeden Vorrang. Ihnen steht das Brot zu. Ganz ähnlich verhält es sich mit den Israeliten und den Heiden. Die Israeliten hatten ein Anrecht auf den besonderen Segen Gottes aufgrund Seiner Verheißungen seit Abrahams Tagen. Die Heiden hatten solche Anrechte überhaupt nicht. Sie waren „Fremdlinge betreffs der Bündnisse der Verheißung“ (Eph 2,12).

Eine Feinheit, die nur Markus berichtet, wollen wir nicht übersehen. Der Herr sprach davon, dass die Kinder zuerst gesättigt werden sollten, wobei das „zuerst“ nicht nur zeitlich zu verstehen ist, sondern auch im Sinn von „in erster Linie“. Das eröffnet die Möglichkeit, dass es später für die „Hunde“ vielleicht etwas geben konnte. Aber dieser Zeitpunkt war jetzt noch nicht gekommen, die Kinder aßen noch – Gott hatte sein Volk noch nicht beiseite gestellt und sich zu den Nationen gewandt. Erst nach dem Kreuz von Golgatha sollte das anders werden.

Die Frau ergreift die Gnade

Die Frau kam aus einer „falschen“ Nation und zum falschen Zeitpunkt. Was hatte sie noch zu hoffen? Es ist einfach großartig, wie sie jetzt reagierte. Sie wandte sich nicht im Zorn ab wie Naaman, der Syrer, der meinte, nicht genügend beachtet worden zu sein (2. Kön 5,11). Nein, sie sagt demütig: „Ja, Herr“, und dann fügt sie hinzu: „Und doch fressen die Hunde unter dem Tisch von den Brotkrumen der Kinder“ (Mk 7,28).

Damit bringt sie mit anderen Worten zum Ausdruck: „Ja, Hunde haben kein Anrecht auf das Brot der Kinder, so wie ich keinen Anspruch auf den Segen des Messias für Sein Volk habe. Aber wenn Hunde heruntergefallene Brotkrumen auflecken, gewähren ihnen das die Leute. Und ich glaube, dass in deinem Herzen mindestens so viel Gnade ist.“

Die Frau, die die ganze Zeit schon ihre Bedürftigkeit gefühlt hatte, ist durch das Verhalten und die Worte Jesu einen entscheidenden Schritt weitergekommen: Sie erkennt nun ihre Unwürdigkeit. Sie akzeptiert den wenig schmeichelhaften Vergleich und ergreift zugleich auf ganz originelle Weise die damit verbundene Gnade. Der Herr erkannte das zutiefst an: Er sagt: „Um dieses Wortes willen geh hin … O Frau, dein Glaube ist groß …“ Sie hat den Herrn buchstäblich beim Wort genommen.

Auch wir wollen in jeder Situation unseres Lebens mit der Gnade des Herrn rechnen (vgl. 1. Pet 1,13). Wir werden nicht leer ausgehen.

Die Gnade gewährt das Erbetene

Als der Herr die Worte der Frau hörte, erkannte Er öffentlich ihren großen Glauben an und sicherte ihr zu, dass der Dämon bereits aus ihrer Tochter gefahren sei (Mt 15,27; Mk 7,29).

Interessanterweise sagt die Schrift nur von zwei Personen, dass sie einen großen Glauben hatten. Dass sind diese Frau und der Hauptmann von Kapernaum (Mt 8,5-13; Lk 17,1-10). Beide waren Heiden. Beide waren demütig. Beide stützten sich vertrauensvoll auf Seine Gnade. Und beide waren auch mit einem Wort des Herrn zufrieden und bestanden nicht darauf, dass Er persönlich käme, um zu heilen. Sie vertrauten schlicht und kühn auf die Macht Seines gesprochenen Wortes. So manifestiert sich großer Glaube!

Die Frau ging nach Hause, sicher in freudiger Erwartung und nicht von Zweifeln geplagt, ob alles gut geworden war. Als sie zu Hause ankam, wälzte sich die Tochter auch nicht gequält auf dem Boden, sondern lag geheilt und friedlich im Bett. Bald würde sie aufstehen und – sicher voller Dankbarkeit – ein ganz anderes Leben führen.

Zusammenfassung

Diese Begebenheit zeigt prägnant, dass Christus ein Diener der Beschneidung war um der Wahrheit Gottes willen, um die Verheißung der Väter zu bestätigen (Röm 15,8). Aber so wie Paulus unmittelbar danach von der Begnadigung der Nationen spricht (Röm 15,9), so wird auch hier die unumschränkte Gnade Gottes nachhaltig vorgestellt.

Gott hatte Abraham und seinen Nachkommen Verheißungen, wie den Bund der Beschneidung und das Gesetz gegeben. Das alles galt nur für eine Nation – die Nachkommen Abrahams. Die Gnade aber überschreitet alle Grenzen. Sie ist in Christus heilbringend für alle Menschen erschienen. Natürlich war erst nach dem Tod und der Auferstehung Jesu der Zeitpunkt gekommen, den Nationen die Gnade zu verkünden. Aber diese heidnische Frau schmeckte im Voraus die Gnade, die wir heute im Vollmaß kennen und genießen dürfen. Ob wir wohl dankbar genug dafür sind, dass Gott sich zu uns, den Nationen, gewandt hat?

Beeindrucken kann uns immer wieder der Glaube dieser syro-phönizischen Frau. Wie beharrlich der Glaube sie machte! Sie ließ sich nicht durch das Schweigen Jesu irritieren, nicht durch die Worte der Jünger und die Antwort des Herrn darauf, und auch nicht durch das, was der Meister ihr sagte. Die Frau erinnert in ihrer Zielstrebigkeit an den Patriarchen Jakob, der zu dem geheimnisvollen Mann, der mit ihm kämpfte, sagte: „Ich lasse dich nicht los, es sei denn, du segnest mich“ (1. Mo 32,27). Wollen wir uns nicht auch so an den Herrn klammern und bitten, dass Er uns Seine Gnade gewährt?

G. Setzer

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2009, Heft 6, Seite 175

Bibelstellen: Mt 15, 21-28; Mk 7, 24-30