Du aber bleibst

Hebräer 1,11.12; Hebräer 13,5-8

Zuzeiten tritt uns die Vergänglichkeit alles Sichtbaren besonders deutlich entgegen. Dann sehen wir über allem den dunklen Schatten des Todes, gegen den auch die glücklichste Familie der Erde nicht gefeit ist. Wir erkennen, wie wahr es ist, dass „die Welt vergeht“. – Dann wird es Zeit, dass wir unseren Blick wegwenden von dieser Welt und hinaufschauen durch die geöffneten Himmel. Dort sehen wir im Glauben „die Herrlichkeit Gottes und Jesus“, und mit Freude kann das Herz zum Herrn sagen: „Du aber bleibst.“

Sicher ist es für alle Gläubigen zu allen Zeiten ein Segen, sich dessen bewusst zu sein, dass Er bleibt. Aber nie ist dieses Wissen kostbarer, als in der Trauer eines schmerzlichen Verlustes, wenn der Tod eine Familie trennt und irdische Hoffnungen zerrinnen. Dann kann der Gläubige aufschauen in Sein Angesicht und sagen: „Du aber bleibst.“ Und wenn Er mit Seinem Mitgefühl in unsere Herzen herniederschaut, dann antwortet Er: „Ich will dich nicht versäumen und dich nicht verlassen.“

Der Erste, dem diese tröstenden und stärkenden Worte zu Ohren kamen, stand vor einer Reise ins Ungewisse. Es war der Patriarch Jakob, aus eigener Schuld auf der Flucht vor seinem Bruder. Später erfahren wir, über was für raue Wege sie führte, wie viel Kummer und Mühsal sie umfasste, welche Proben sie mit sich brachte – aber auch etwas über Zeiten der Freude, ihre heilsamen Lektionen und ihren bleibenden Gewinn. Aber die Barmherzigkeit des Herrn erwähnt Jakob gegenüber kein Wort von der Beschaffenheit dieses Weges. Aber das Eine kennt er: das herrliche Ziel dieser Reise. Der Herr sagt: „Ich werde dich zurückbringen in dieses Land“, und „in dir und in deinen Nachkommen sollen gesegnet werden alle Familien der Erde.“ Aber er weiß noch mehr. Vom Beginn dieser Reise bis zum letzten Schritt, der seine Füße in das verheißene Land zurückbringt, weiß er, dass er nie verlassen sein wird. Denn der Herr sagt (1. Mo 28,13-15):

„Ich bin mit dir;“

„Ich will dich behüten;“

„Ich werde dich nicht verlassen.“

Bei dem Christen heute ist es nicht anders. Ja, mit noch tieferer Bedeutung können wir uns solche Worte des Trostes aneignen.

Auch wir kennen den Ausgangspunkt unserer Reise: Mit der Gnade Gottes, die uns errettet hat, haben wir uns aufgemacht. Und wir kennen das Ziel unserer Reise, denn was die Gnade begann, wird in der Herrlichkeit enden. Das Erscheinen der Gnade bahnt den Weg für das Erscheinen der Herrlichkeit – einer Herrlichkeit, in der wir Christus „gleich sein werden“, für immer und ewig bei Ihm. Doch zwischen dem Beginn in Gnade und dem Ziel in Herrlichkeit liegt unser Pfad durch eine feindliche Welt, in der es Sünde und Leid gibt. Was uns auf diesem unbetretenen Weg begegnen wird, wissen wir nicht. Aber das wissen wir: Der Herr hat gesagt: „Ich will dich nicht versäumen und dich nicht verlassen.“

Und wie bewegend ist es, dass der Herr selbst diese Trostworte an uns richtet! Kein Bote überbringt sie uns, kein Engel oder Erzengel. Er selbst will einsamen und kummervollen Herzen nahe sein. Denn kein anderer kann uns mit solcher Zartheit sagen: „Ich will dich nicht versäumen und dich nicht verlassen.“ – Der Glaube, der diesen Zuspruch ergreift, kann sich über diese Welt voller Sünde, Leid und Tod erheben und „kühn sagen“: „Der Herr ist mein Helfer, und ich will mich nicht fürchten.“

Zudem hat Der, der uns diese Worte des Trostes hören lässt, auch selbst schon vor uns jeden Schritt dieser Reise zurückgelegt. Er hat das herrliche Ziel erreicht, den „Himmel selbst“, und erscheint dort für uns vor dem Angesicht Gottes. Er sagt gleichsam zu Seinen bekümmerten Heiligen: Ich bin vor euch diesen Weg gezogen „wie ein Fremdling im Land und wie ein Wanderer“, als „ein Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut“. Ich kenne die rauen Stellen und die ebenen. Ich habe die Berge erklommen, die dunklen Täler durchschritten und bin durch Wasser gewatet. – Aber ich habe auch das letzte dunkle Tal des Todesschattens durchschritten und habe die herrliche Heimat erreicht. Ich habe mich zur Rechten Gottes gesetzt, und vom Thron der Herrlichkeit aus werde ich euch stützen, euch zu Hilfe kommen und mich für euch verwenden. Und am Ende werde ich für euch kommen und euch zu mir nehmen, damit, wo ich bin, auch ihr seiet. – „Ich werde dich nicht verlassen, bis ich getan, was ich zu dir geredet habe“ (1. Mo 28,15).

Es gibt noch einen weiteren Trost im Herrn für trauernde Herzen. Wir können nicht nur aufblicken und sagen: „Du aber bleibst“; wir können auch noch hinzufügen: „Du bist derselbe.“

Wenn wir auf vergangene Jahre zurückblicken und an manche denken, die wir kannten und liebten, erfüllt uns Wehmut, dass manche gegangen sind und manche sich verändert haben. Aber wie erhebt es dann unsere Seelen über die Traurigkeit solcher Momente, wenn wir aufblicken und erkennen, dass es Einen gibt, der nicht von uns gehen und sich auch nicht verändern wird.

Und so, wie die Worte des Herrn „Ich will dich nicht versäumen und dich nicht verlassen“ eine beglückende Antwort darstellen auf das zuversichtliche Wort „Du aber bleibst“, findet auch das Wort „Du bist derselbe“ eine Erweiterung im letzten Kapitel des Hebräerbriefes. Denn da lesen wir: „Jesus Christus ist derselbe gestern und heute und in Ewigkeit.“ Das geht noch weiter als das Wort im ersten Kapitel, denn es sagt uns nicht nur, dass Er derselbe ist, sondern dass Er heute im Himmel derselbe ist, der Er gestern auf der Erde war.

Seine Umstände haben sich in der Tat gewaltig geändert. Gestern war Er der Arme und Mittellose, der heimatlose Mensch, der Fremde, der „nicht hatte, wo Er das Haupt hinlege“. Heute hat Er in der himmlischen Herrlichkeit wieder Königtum und höchste Würde eingenommen. Er hat die Kleider der Erniedrigung für immer abgelegt und den erhabenen Mantel der Herrlichkeit
angezogen, der diesem Platz der Herrlichkeit angemessen ist.

Aber haben sich auch Seine Umstände geändert – Sein Herz hat sich nicht geändert. Viele Kronen kommen Ihm zu, und mit Freuden werden wir Ihn gekrönt als Herrn über alles schauen; aber keine Krone, die je Sein Haupt zieren wird, wird Sein Herz ändern. Die Liebe, die mit Martha und Maria weinen konnte, hat sich nicht im Geringsten geändert. Das Herz, das voll Mitleid für die Witwe in Nain war, empfindet immer noch voll Mitgefühl mit trauernden Gläubigen. Die zarte Liebe, die das gebrochene Herz eines Jairus aufrichtete, spricht immer noch mit tiefem Mitgefühl zu dem gebrochenen Herzen eines Gläubigen: „Fürchte dich nicht, glaube nur.“

H. Smith

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2009, Heft 1, Seite 4

Bibelstellen: Hebr 1, 11.12; Hebr 13, 5-8