Überblick über die Prophetie Hesekiels

Hesekiel, der dritte der größeren Propheten, steht zu Recht an dieser Stelle. Seine Botschaft ist ebenso verwandt mit der Jeremias auf der einen Seite wie mit der Daniels auf der anderen. Jeremia betrachtet den historischen Abbruch der Verbindung zwischen Gott und seinem Volk – auf das der Name „Lo-ammi“ (nicht mein Volk) geschrieben wird, während sich Hesekiel schon unter den Gefangenen befindet und im Einzelnen auf die Ursachen dieses schrecklichen Bruchs eingeht.

Der Name des Propheten – „Gott ist (oder: macht) stark (oder: fest)“ – ist kennzeichnend für dieses Buch. Das zeigt sich schon am Anfang, wo Gott ihm Seinen Vorwurf gegen ein Volk mit „harter Stirn und verstocktem Herzen“ vorstellt und erklärt, dass Er dementsprechend das Angesicht des Propheten hart gemacht hat gegenüber ihrem Angesicht und seine Stirn hart gegenüber ihrer Stirn (Kap. 3,7.8). Das bedeutet nicht nur die nötige Stärkung für seine schwierige Lage, sondern viel mehr die Haltung des Herrn selbst ihnen gegenüber. Der Prophet mit seiner Zornesbotschaft ist tatsächlich Ben-Busi („Sohn meiner Verachtung“), wie Gott in Bezug auf ihn erklärt (vgl. Kap. 1,3). Die Israeliten hatten den Herrn mit der Verachtung geschmäht, die Er nun unausweichlich im Gericht vergelten musste.

Daher haben wir auch ständig in diesem Buch den charakteristischen Ausdruck, der kaum woanders gebraucht wird: „Die Hand des Herrn kam über mich“, oder: „Die Hand des Herrn fiel auf mich“ (Kap. 3,22; 8,1), ja sogar: „Die Hand des Herrn war stark auf mir“ (Kap. 3,14). Gott bleibt, und Sein Wort bleibt bestehen, wenn auch jetzt im Gericht. „Ihr werdet wissen, dass ich der Herr bin“, tönt es durch fast alle Abschnitte (beginnend mit Kap. 6,7), und das ist ein hervorstechendes Bindeglied zum 3. Buch Mose, dessen Platz Hesekiel inmitten der 5 großen Propheten einnimmt. In 3. Mose finden wir immer wieder im Anschluss an die Gebote dort, die auf der Heiligkeit des Erretters Israels bestehen, dieses „Ich bin der Herr“. Hier dagegen bestätigt Sein Handeln mit ihnen, was Er als solcher ist: der Unwandelbare, allezeit Seinem Wesen treu, ohne die Möglichkeit, davon abweichen zu können. Daher musste bei einem Volk, das sich wie Israel zu erkennen gegeben hatte, das Gericht seinen Lauf nehmen.

Deshalb ist das Thema hier weitgehend Gericht, obwohl das Ende Gnade ist. Die Sünde muss zuerst offenbar werden, um dann weggetan zu werden. Hier findet sich erneut ein Anklang an das 3. Buch Mose: Der Priester handelt mit dem Aussätzigen. Hesekiel wird uns nachdrücklich als Priester-Prophet vorgestellt, und das ganze Buch ist eine Art Erweiterung des angeordneten Vorgehens bei Aussatz, auf dem das 3. Buch Mose besteht. Alles davon findet hier seinen Platz. In der Gegenwart der Herrlichkeit Gottes muss der Zustand beurteilt werden; und wenn dieser deutlich erkannt ist, zieht sich die Herrlichkeit zurück. Dadurch wird der Aussätzige außerhalb des Lagers gebracht. Dennoch, das ist nicht das Ende, denn Gott „hasst Entlassung“, und wenn Er das doch tut, ist es nur für eine Zeit, bis Sein Handeln sich an den Seelen Seines Volkes wirksam erweist. Da dies zur Zeit des Endes eintritt, kehrt die Herrlichkeit zurück. Man beachte, es ist das Heiligtum in Israel, das als verunreinigt mit den Gräueln des Volkes gesehen wird, und das Buch endet mit dem wiederhergestellten Heiligtum und damit, dass die göttlichen Flügel sich erneut ausbreiten über die Stadt, deren Name jetzt heißt „Jahwe-Schamma“ („der Herr ist hier“).

Wenn es also Gericht gibt, ist es das Gericht des Priesters: nicht nur in der nötigen Heiligkeit ausgesprochen, sondern von einem, der rechtfertigen und nicht verurteilen will. Hesekiel ist demzufolge durch das ganze Buch hindurch der „Menschensohn“, ein Ausdruck, mit dem nur noch einmal ein anderer Prophet – Daniel – angeredet wird (Dan 8,17). Daniel ist auch der Einzige, der auf dem Thron des Reiches am Ende der Zeiten „einen wie eines Menschen Sohn“ sitzen sieht (Kap. 7,13). Wie schön ist es, auch hier bei Hesekiel auf dem himmlischen Thron „eine Gestalt wie das Aussehen eines Menschen“ zu sehen (Kap. 1,26)! Es ist der Herr selbst, der uns erklärt, dass der Vater „ihm Gewalt gegeben hat, Gericht zu halten, weil er des Menschen Sohn ist“ (Joh 5,27). Durch einen Menschen soll der Mensch gerichtet werden – und zwar durch Einen, der alles genau kennt, was den Menschen betrifft, und der wohl vertraut ist mit einem Weg des Gehorsams inmitten all der Umstände, die durch den Fall des Menschen eingetreten sind. Das hat Er durchlebt unter menschlichen Lebensverhältnissen angesichts der Machtfülle des Feindes, indem Er auch die Auswirkungen der Sünde empfand wie sonst keiner und den Becher des Zorns bis auf den Grund leerte.

Hesekiel ist der bloße Schatten eines Solchen, in dessen Händen das Gericht gut aufgehoben ist, wobei das göttliche Erbarmen überall hindurchscheint. Wir finden hier Den vorgebildet, dessen Herz ständig an das Herz des Menschen appelliert bei allem, was ein Strafgericht herausgefordert hat – das dennoch erst dann ausgeübt wird, wenn die göttliche Geduld ihre Grenze erreicht hat und ein weiteres Hinauszögern nur Verunehrung bedeuten würde. Diese Einzelheiten sind bloß die nötige Rechtfertigung Dessen, der richtet, vor Seinen Geschöpfen. Daher ist Hesekiel das Buch, das alles offen legt. Aber nicht nur das Tun des Menschen wird offenbart, sondern auch das Handeln Gottes, und zwar in der Liebe, der Er schließlich freien Lauf lassen kann.

Das Gericht hat jedoch in Hesekiel einen besonderen Charakter. Hesekiel verweilt nicht bei dem zukünftigen Endgericht (auf das der Blick der anderen Propheten so sehr gerichtet ist), obwohl wir am Ende in gewissem Maß auch das finden. Vielmehr geht es um ein näher liegendes Gericht, das durch die Hände von Menschen herbeigeführt wird – nämlich durch Nebukadnezar, dem hauptsächlichen Werkzeug dazu -, ob über Israel oder über die umliegenden Nationen. Wie wir wissen, beginnt mit Nebukadnezar eine neue Zeitperiode, die im Propheten Daniel im Einzelnen vor uns gebracht wird: die Zeiten der Nationen. Das ist die Oberherrschaft der Heiden über Israel, und sie währt so lange, wie Gott seinem Volk zürnt. In Hesekiel haben wir das noch nicht, sondern das vorläufige Räumen des Feldes, auf dem die neuen Weltreiche sich entfalten sollten. Somit handelt es sich nicht allein um das Gericht über Israel, obwohl es im Vordergrund steht: Die Nationen werden mit hineingezogen, und für Nebukadnezar ist die Ausführung sogar ein Gewinn bringendes „Geschäft“ (vgl. Hes 29,18-20).

Die Nationen, die so unter Gericht kommen, sind jene, die die meiste Gelegenheit hatten, Gott kennen
zu lernen, weil sie mit Israel in engster Verbindung standen, das heißt mit der Offenbarung Gottes, so sehr auch das Volk in seinem eigenen Zeugnis versagt hat. Wenn also Israel selbst gerichtet wird, brauchen sich die umliegenden Nationen dennoch nicht gegen das Volk zu erheben.

Vor dem Neu-Anfang muss mit den umliegenden Völkern aufgeräumt werden. Davon handelt der zweite Teil des Buches Hesekiel (Kap. 25-32): Das Gericht wird gesehen, wie es über Ammon, Moab, Edom, Philistäa, Tyrus, Sidon und Ägypten kommt – sieben Nationen. Das ist eine vollständige Zusammenstellung des Gebietes, beginnend mit den Völkern, die mit Israel verwandt waren, wie Ammon, Moab und Edom; dann die Fremden im Land: die Philister, Tyrus und Sidon; und schließlich ihr früheres Land der Knechtschaft: Ägypten, aus dem Gott sie einst auf so bemerkenswerte Weise befreit hatte, das aber auf verschiedene Weise so lange ein Fallstrick für Israel gewesen war. Alle diese haben eine Beziehung zum Volk Gottes, wenn auch in unterschiedlicher Weise. Die Übersicht ist vollständig und der Zweck offensichtlich.

Im dritten Teil des Buches (Kap. 33-48) wird Israel schließlich wiederhergestellt und steht am Ende in der Gunst Gottes. Es kommt zu einer wirklichen Auferstehung, einer Wiederbelebung aus einem solchen Zustand des Todes, dass selbst ihre Gebeine verdorrt im Tal umherliegen und, wie man meinen sollte, unmöglich wieder zusammengefügt werden können. Doch dann erfahren sie eine wahre Auferstehung, und dementsprechend besitzen sie das neue Leben von Gott. Dann sind sie der Segen für die Erde, zu dem sie bestimmt sind. Tatsächlich sind sie das, ungeachtet ihrer selbst, durch die überschwängliche Gnade Gottes schon gewesen – sollen aber noch mit ihrem ganzen Herzen Gott gehören und dankbar den Platz ausfüllen, den die Gnade ihnen gegeben hat. Damit haben wir als Bild vom allgemeinen Werk Gottes die Heilung des Fluches vor uns, wie sie gesehen wird in den Flüssen, die vom Heiligtum ausgehen und den See des Todes selbst gesunden lassen werden.

F. W. Grant

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2010, Heft 4, Seite 116

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