„Die Furcht des Herrn“
Es gibt in der Schrift Grundsätze von großer Wichtigkeit, die mit der Gesamtaussage der Bibel eng verflochten sind und doch an keiner Stelle zu einer formellen und eindeutigen Aussage herauskristallisiert werden. Nehmen wir zum Beispiel das, was im Alten Testament über die „Furcht des Herrn“ gesagt wird. Diesem Ausdruck begegnet man immer wieder, besonders aber im fünften Buch Mose, wo Mose sich mit dem moralischen Zustand Israels beschäftigt, und auch in den Psalmen, den Sprüchen und den späteren Propheten, wo wir das Zeugnis Gottes angesichts des Verfalls des Volkes und seines Versagens finden. Ein Überblick über diese und verwandte Stellen wird sicherlich genügen, um überzeugend darzulegen, dass es einen Grundsatz in der Schrift gibt, den man etwa folgendermaßen formulieren könnte:
Gott schenkt der äußeren Stellung eines Menschen ziemlich wenig Beachtung, solange dessen innerer Zustand nicht dementsprechend ist. Er legt aber großen Nachdruck auf den inneren Zustand.
Wir wollen vier bemerkenswerte Abschnitte aus dem Alten Testament als Beispiele dafür heranziehen, zwei aus den Psalmen und zwei aus den späteren Propheten.
1. Das Geheimnis
„Das Geheimnis des Herrn ist für die, die ihn fürchten, und sein Bund, um ihnen denselben kundzutun“ (Ps 25,14).
Der ganze Psalm beschäftigt sich damit, den moralischen und geistlichen Zustand zu betonen, der Gott wohlgefällig ist. Das demütige Bekennen von Sünden, Vertrauen auf Gott, Sanftmut des Geistes und Gehorsam gegenüber den Zeugnissen Gottes – auf diese Themen wird hier Nachdruck gelegt. Das alles ist aus Gottes Sicht von höchstem Wert, und zwar in allen Haushaltungen, wie daraus hervorgeht, dass David, der ja der Schreiber ist, vorausblickt bis zur endgültigen Vorherrschaft jenes gerechten und göttlichen „Nachkommen“ im Tausendjährigen Reich (V. 13). Diesem Gedankenkreis schenkt Gott Beachtung, und das Ganze wird zusammengefasst in dem Ausdruck „die Furcht des Herrn“.
Das Geheimnis ist also für die, die den Herrn fürchten. Gott teilt Seine Gedanken und das Geheimnis Seiner Wege nicht allen Seinen Kindern im selben Ausmaß mit und gewährt nicht allen Seinen Kindern dasselbe innige Bewusstsein Seiner Nähe – ganz zu schweigen von der Welt. Zwar steht jedes Kind Gottes in derselben Gnade und genießt dasselbe Leben, dieselbe Beziehung und Gunst, aber keineswegs genießen alle dieselbe Innigkeit der Gemeinschaft. Aber um die Gedanken Gottes zu kennen, brauchen wir eins: dass unser Geist und unser Leben von Gottesfurcht durchdrungen sind – ein äußerlicher Rang und auch die richtige Stellung und eine gelehrte Kenntnis der Schrift genügen dazu nicht.
Dafür gibt uns die Schrift manche Illustration. So wurde Lot zu den Gerechten gezählt wie Abraham, aber „Freund Gottes“ wurde er nie genannt. Und während Abraham in das Geheimnis davon eingeweiht wurde, was Gott mit Sodom tun wollte, wusste Lot bis zum letzten Augenblick nichts davon.
Ein noch eindrucksvolleres Beispiel wird uns durch den Gegensatz zwischen den Anfangskapiteln von Matthäus und Lukas geboten. Zum Zeitpunkt, als das größte Ereignis der Geschichte Israels bevorstand, war ganz Jerusalem in Unkenntnis und Gleichgültigkeit gehüllt. Nicht nur der vergnügungssüchtige Herodes, sondern auch Priester, gesetzeskundige Schriftgelehrte und religiöse Pharisäer waren sich überhaupt nicht dessen bewusst, dass der lange verheißene Messias geboren worden war. Der erste Hinweis darauf erreichte sie durch orientalische Weise, die Fremde waren im Gemeinwesen Israels und dem Bund der Verheißung fern standen.
Noch schlimmer ist, dass sie, als sie es wussten (offenbar Monate nachdem das Ereignis bekannt geworden war), ganz schlagfertig und korrekt die Schrift über den Geburtsort des Messias anführen konnten – und sich dann anschickten, ihre Schriftkenntnis zu benutzen, um Seinen Tod herbeizuführen!
Das waren die Männer, die sich zu jener Zeit ihrer äußeren Stellung rühmten. Das Lukas-Evangelium dagegen beginnt auf ganz anderen Schauplätzen. Wir werden bekannt gemacht mit den Hütten der Geringen in Galiläa – mit Leuten ohne Berühmtheit und Rang in der Welt, und wir finden, dass sie inspirierte Worte über die Geburt des Messias sprachen – Monate, bevor Er kam. Und dann, als Jesus in Bethlehem geboren war, waren da gewisse Hirten – fromme Männer, die bei Nacht über ihre Herden wachten. Sie erfuhren durch Vermittlung von Engeln von dem freudigen Ereignis nur kurze Zeit, nachdem es geschehen war.
Wie groß ist dieser Gegensatz! Die Männer von Herkunft und hoher Stellung sind völlig blind – die Männer, die außer Gottesfurcht nichts haben, werden völlig vertraut gemacht mit dem Geheimnis des Herrn.
2. Das Banner
„Denen, die dich fürchten, hast du ein Banner gegeben, dass es sich erhebe um der Wahrheit willen“ (Ps 60,6).
Der Hintergrund dieses Verses ist ausgesprochen kriegerisch. Der ganze Zusammenhang spricht von Kampf. Niederlage kennzeichnet die Anfangsverse, und dank Gottes Eingreifen kommt es am Schluss zum Sieg.
Nun, wenn ein Heer durch eine erlittene Niederlage in Gefahr gerät, zu einem planlosen Haufen zu entarten, und dennoch in eine Streitkraft verwandelt wird, die zum Sieg geführt werden kann, dann muss das mithilfe eines sichtbaren Sammelpunkts geschehen. Daher wird das Eingreifen Gottes hier mit dem Erheben eines solchen Banners verglichen.
Das schwankende Kriegsglück Davids in seinen Kämpfen gegen die Syrer und Edomiter gab den Anlass zur Niederschrift dieser Worte, doch damit ist ihre
Bedeutung keineswegs erschöpft. Das Banner der Wahrheit besteht fort durch alle Kämpfe der Pilgerschaft der Heiligen Gottes hindurch, und es soll gesehen werden. Ein Geheimnis ist etwas, was gewahrt werden muss und seinem Wesen nach nur für die Ohren von einigen geeignet ist, aber nicht von allen. Ein Banner dagegen ist seinem Wesen nach das Hochheben einer Inschrift, die jeder sehen soll, ob er sie zu Herzen nimmt oder nicht.
Die Wahrheit soll also wie ein erhobenes Banner sichtbar gemacht werden, doch wessen Hände sollen es halten? Die Hände derer, „die dich fürchten“.
So ist es immer gewesen. Wir müssen uns nur nochmals zu den Anfangskapiteln von Lukas wenden, um Beispiele dafür zu finden. Kaum hatten die Hirten den neugeborenen Messias zu Gesicht bekommen, begannen sie von Ihm zu zeugen (Lk 2,17.18). Als die Prophetin Anna Ihn erblickte, trat sie sogleich herzu und „redete von ihm zu allen, die auf Erlösung warteten in Jerusalem“ (Lk 2,38). Auf diese Weise wurde das Banner erhoben, wenn auch anfangs nur in einem sehr begrenzten Kreis.
Auch der erste Teil der Apostelgeschichte stellt das Erheben des Banners der Wahrheit durch „ungelehrte und ungebildete Leute“ dar, die jedoch „mit Jesus gewesen waren“ – sehr zum Missfallen derer, die priesterliche Abstammung und Rechte für sich beanspruchten. Der spätere Teil zeigt, wie das Banner durch Saulus in die heidnische Welt getragen und hochgehalten wurde trotz schärfsten Widerstands vonseiten der Juden.
Wenn wir zu den Briefen kommen, finden wir, wie derselbe Apostel das Banner übergibt, und zwar nicht an Männer, die eine hohe Stellung bekleideten, auch nicht an beamtete Älteste oder Diakone oder an Männer um ihrer Begabung willen, sondern an Timotheus, der mehr als andere von einem gottgemäßen Zustand gekennzeichnet war.
Von Timotheus hatte Paulus schon früher geschrieben: „Ich habe keinen Gleichgesinnten, der von Herzen für das Eure besorgt sein wird“ (Phil 2,20). Sicher
dürfen wir den Ausdruck „gleichgesinnt“ nicht nur auf den Apostel Paulus selbst beziehen, sondern müssen in Paulus auch den „Nachahmer“ Christi sehen, der letztlich das Vorbild ist, das über allem steht. Timotheus war ein Mann, in dem in besonderem Maß die Gesinnung wohnte, „die auch in Christus Jesus war“, und deshalb richtet Paulus an ihn die Abschiedsworte: „So schäme dich nun nicht des Zeugnisses unseres Herrn“ (2. Tim 1,8), und: „Predige das Wort“ (2. Tim 4,2).
Noch einmal: Das Banner des Zeugnisses des Herrn wurde von Paulus, dem Kampferprobten, nicht an eine Klasse oder Schar von Männern in einer bestimmten äußeren Stellung übergeben, sondern an einen, der von einem bestimmten inneren Zustand gekennzeichnet war, an einen, der wirklich die Gesinnung Christi besaß.
3. Das „Gedenkbuch“
„Da unterredeten sich miteinander, die den Herrn fürchten, und der Herr merkte auf und hörte; und ein Gedenkbuch wurde vor ihm geschrieben für die, die den Herrn fürchten und die seinen Namen achten“ (Mal 3,16).
Das Buch Maleachi bietet uns, soweit es um das Alte Testament geht, einen letzten Blick auf die Juden, die die Länder ihrer Gefangenschaft verlassen hatten und nach Jerusalem zurückgekehrt waren. Es gibt uns auch eine erste Andeutung vom Stand der Dinge, der sich entwickelte, indem es den aufrichtigen Überrest inmitten der Selbstgefälligkeit des Volkes und seiner Führer erkennen lässt. Die Anfangskapitel des Lukas-Evangeliums, auf die wir schon angespielt haben, fügen sich ohne weiteres an das Ende von Maleachi an und zeigen uns nach wie vor einen „Überrest nach Wahl der Gnade“. Wir können gewiss sein, dass es durch die ganzen 350 bis 400 Jahre hindurch, die dazwischen liegen, nie an einem solchen Überrest gefehlt hat.
Genau die Eigenschaft, mit der wir uns hier beschäftigen, steht bei ihnen ganz im Vordergrund. Es war „die Furcht des Herrn“. Ihre Gedanken waren mit Ihm beschäftigt, denn sie „achteten seinen Namen“; sie sannen nach über alles, was Gott von sich offenbart hatte, und wachten über Seinen Ruf, indem sie sich daran hielten. Ihre Lippen waren mit Seinem Wort beschäftigt, denn sie „unterredeten sich miteinander“, und ihre Worte fanden die Anerkennung Gottes, denn „der Herr merkte auf und hörte“. Schließlich hatten auch ihre Handlungen Gottes Zustimmung, denn es ist die Rede von dem „Gerechten, der Gott dient“ (Mal 3,18).
Wer diese treuen Leute waren, entzieht sich unserer Kenntnis. Sie lebten abseits aller Berühmtheit in ihren Tagen. Die berühmten Leute ihrer Zeit waren die Priester, diese schwachen und kläglichen Vertreter des einst herrlichen, von Gott eingesetzten Standes. Diese hatten sich „auf den Stuhl Moses gesetzt“; sie waren stolz und wurden glücklich gepriesen (Mt 23,2; Mal 3,15). Dennoch spricht der Herr durch den Propheten ein vernichtendes Urteil über sie aus. Anerkannt wurden nur die, „die den Herrn fürchteten“.
Und für diese wurde das „Gedenkbuch“ vor dem Herrn geschrieben. Ihr Verzeichnis ist droben und wird vorgelegt werden, wenn die auf Erden geführten Aufzeichnungen der Stolzen längst vergangen sein werden, als ob sie nie bestanden hätten. Und nicht nur ihr Verzeichnis ist in Sicherheit, sondern sie selbst sollen als besonderer Schatz des Herrn am Tag des kommenden Reiches dargestellt werden. Sie werden „errettet werden, jeder, der im Buch geschrieben gefunden wird“. So wird es in Daniel 12,1 über die gottesfürchtigen Nachkommen vorhergesagt, deren Los es sein wird, durch die große Drangsal der letzten Tage zu gehen.
Nach Stellen wie Offenbarung 3,7-11 wird man ziemlich sicher sagen können, dass das Gedenkbuch sozu-sagen noch immer in Gebrauch ist und dass noch immer die Berichte über solche darin aufgezeichnet werden, die den Herrn fürchten und Seinen Namen achten, also
solche, die mehr von einem bestimmten inneren Zustand geprägt sind, als dass sie eine bestimmte Stellung einnehmen.
4. Die „Sonne der Gerechtigkeit“
„Aber euch, die ihr meinen Namen fürchtet, wird die Sonne der Gerechtigkeit aufgehen mit Heilung in ihren Flügeln. Und ihr werdet ausziehen und hüpfen wie Mastkälber“ (Mal 3,20).
Unter diesem treffenden Bild begegnet uns die Verheißung der Erscheinung des Herrn. Er ist die Sonne, d. h. der Mittelpunkt und die Quelle des Lichts und der Wärme, der Autorität, Herrschaft und Macht. Er ist die Sonne der Gerechtigkeit, denn wenn Er auf dem Schauplatz von moralischem Chaos und Ungerechtigkeit erscheint, muss das notwendigerweise die hervorstechende Eigenschaft sein.
Aber wenn er als Sonne der Gerechtigkeit aufgeht, wird das nicht für alle sein? Sicher, aber sie wird nicht für alle mit Heilung in ihren Flügeln aufgehen. Für viele wird Sein Erscheinen das genaue Gegenteil bedeuten. Er wird mit heftiger und sengender Hitze aufgehen: „Denn siehe, der Tag kommt, brennend wie ein Ofen; und alle Übermütigen und alle Täter der Gottlosigkeit werden zu Stoppeln werden; und der kommende Tag wird sie verbrennen, spricht der Herr der Heerscharen, so dass er ihnen weder Wurzel noch Zweig lassen wird“ (Mal 3,19). Mit Heilung in den Flügeln wird Er nur denen aufgehen, die Seinen Namen fürchten.
Es ist höchst bedeutsam, dass wir hier in den Schlussworten des Alten Testaments die zwei Klassen nicht nur klar unterschieden finden, sondern auch so verschieden bezeichnet: „ihr, die ihr meinen Namen fürchtet“ einerseits und „die Übermütigen“ auf der anderen Seite. Bedeutsam deshalb, weil wir hier am Ende die Neigung klar aufgedeckt finden, die zwangsläufig bei denen auftritt, die mehr auf die äußere Stellung Wert legen als auf den inneren Zustand: Am Ende steht immer der Stolz – die Neigung, die Gott von allem am meisten verhasst ist.
Legt man das Hauptgewicht auf eine äußere Stellung und verweist Fragen des geistlichen Zustands auf den zweiten Platz, dann führt das unweigerlich in diese Richtung, während die Überprüfung des eigenen niedrigen Zustands, die uns demütigen würde, aus dem Blickfeld verdrängt wird.
Legt man dagegen das Hauptgewicht auf den inneren geistlichen Zustand und verweist die äußere Stellung auf den zweiten Platz, dann hat das die gegenteilige Wirkung und führt zu einer niedrigen und demütigen Gesinnung, die bei Gott großen Wert hat. Solch einen Geist sehen wir zum Beispiel bei Maria in Lukas 1,46-55 (insbes. V. 48).
In ihrem Fall wurde sie die Mutter des Messias, und auf diese Weise besuchte „der Aufgang aus der Höhe“ die Armen der Herde des Herrn. Als „Sonne der Gerechtigkeit“ wird Er noch in Herrlichkeit aufgehen zur Rechtfertigung und Segnung derer, die Ihn fürchten.
F. B. Hole
Schreibe einen Kommentar