Das geknickte Rohr und der glimmende Docht

(Jesaja 42,1-4)

„Siehe, mein Knecht, den ich stütze, mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat: Ich habe meinen Geist auf ihn gelegt … Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen; er wird der Wahrheit gemäß das Recht kundtun.“

Das Wort vom „geknickten Rohr“ und dem „glimmenden Docht“ ist ein bildlicher Vergleich, den Gott gebraucht, um die Art und Weise zu beschreiben, in der Sein „Knecht“, Sein „Auserwählter“, vorgehen würde, um auf der Erde die rechtmäßige Ordnung der Verhältnisse wiederherzustellen, die seit dem Eintreten der Sünde durcheinandergeraten ist. Anders als die Großen dieser Welt würde Christus die Menschen nicht nach dem Nutzen bewerten, den Er von ihnen erwarten konnte, sondern im Gegenteil: nach dem Maß der Gnade, die Er ihnen erweisen konnte. Das ist die Weise Gottes selbst, der „das, was nicht ist“, auserwählt hat, um „das, was ist“, zunichte zu machen (1. Kor 1,28). Ja, „was bei Menschen unmöglich ist, ist möglich bei Gott“ (Lk 18,27).

Schon früh im Altertum benutzte man Schilfrohr zur Herstellung von Flechtwerk, wie wir ja auch aus dem Bericht über die ersten Lebenstage von Mose wissen (2. Mo 2,3). Der Korbmacher nahm bei seiner Arbeit ein Rohr nach dem andern zur Hand, prüfte durch vorsichtiges Biegen seine Elastizität und suchte dabei festzustellen, an welcher Stelle des Werkstücks es am besten seinen Platz fand. Hatte es einen Knick, dann war die Elastizität dahin; der Korbmacher zerbrach es und warf es zum Abfall – gnadenlos.

Wenn bei Obstbäumen ein Ast gebrochen ist, bemüht sich der Gärtner, durch einen Verband den Schaden zu mindern; aber Schilfrohr ist keine Kulturpflanze, um die sich irgendjemand müht. Darum besiegelt das Zerbrechen des Schilfrohres sein endgültiges Los, selbst wenn Reste davon vielleicht noch irgendwie Verwendung finden.

Wie ganz anders ist doch der Herr Jesus „geknickten“ Menschen begegnet! Mit Recht wenden wir diesen Ausdruck ja auch auf den Seelenzustand eines Menschen an. Denken wir an die Frau mit dem unheilbaren Blutfluss, die in ihrer Beschämung heimlich Sein Gewand anzurühren versuchte, um geheilt zu werden: „Tochter“, wie muss diese Anrede Balsam für ihre Seele gewesen sein, und dann „dein Glaube hat dich geheilt.“ Ja, Glauben hatte der Herr in ihrem Verhalten gesehen, wo wir wohl eher beim äußeren Anschein stehen bleiben. Das ist ein großer Trost für jeden Hilfesuchenden.

Beim Gedanken an den glimmenden Docht müssen wir uns eine Öllampe vorstellen, wie sie in biblischer Zeit üblich war. Im Docht stieg das Öl aus dem Behälter auf in den Bereich der Flamme, wo es durch die hohe Temperatur zum Verdunsten gebracht wurde und so in gasförmigem Zustand seinerseits verbrannte. Wurde das Öl knapp, dann ragte das Ende des Dochtes aus dem Bereich der Flamme heraus und fing unter dem Einfluss des Luftsauerstoffs an zu glimmen. Ging das Öl ganz zu Ende, dann verglomm auch der freie Teil des Dochtes zu Asche – sofern man ihn nicht vorher auslöschte.

Wir wollen mit der Ausdeutung solcher Bilder nicht zu weit gehen, aber wenn wir beim geknickten Rohr an Gemüter denken, die durch Lasten beschwert sind, dürfen wir sicher beim glimmenden Docht an Menschen denken, die mit ihren innerlichen Kräften am Ende sind. Der Apostel Paulus jedenfalls hat so etwas erlebt, denn er sagt, dass er und seine Begleiter bei einer bestimmten Gelegenheit „übermäßig beschwert wurden, über Vermögen, so dass wir sogar am Leben verzweifelten“ (2. Kor 1,8). Am Leben verzweifeln heißt, dass sie nicht mehr damit rechneten, in der Bedrängnis lebend davonzukommen. Und doch wird gerade hier „der glimmende Docht nicht ausgelöscht“, und zwar dadurch, dass das Bewusstsein in ihnen um sich griff, dass sie, selbst wenn ihr Tod unabwendbar wäre, es immer noch mit einem Gott zu tun hatten, „der die Toten auferweckt“ (V. 9). Und das Ergebnis war, dass sie nach dieser Erfahrung ihre Hoffnung neu auf diesen Gott setzen konnten, „dass er uns auch ferner erretten wird“ (V. 10).

Das Zitat aus Jesaja 42 bezieht sich auf den Messias Israels, und auch die Anführung in Matthäus 12,18-21 geht nicht über diesen Rahmen hinaus, denn im Tausendjährigen Reich wird es erfüllt sein, dass „er das Recht auf der Erde gegründet hat“ und die Nationen in Ihm gesegnet werden. Wir als die Gläubigen der Jetztzeit kennen Ihn auf einer viel höheren Ebene: Er ist uns in das Haus Seines Vaters vorausgegangen, das nun auch unser wahres, ewiges Zuhause ist. Und doch – solange wir noch auf der Erde sind, tut es unseren Herzen wohl, Seine „Tugenden“ zu betrachten, wie Er sie hier offenbart hat (1. Pet 2,9).

Vielleicht können die kurzen Gedanken, die uns beschäftigt haben, ein wenig dazu beitragen, unser Zutrauen zu Ihm zu mehren. Ein Herr, der Hilfsbedürftigen mit solcher Behutsamkeit begegnet, wird auch uns durch alle Umstände der vor uns liegenden Zeit hindurchtragen.

E. E. Hücking

Ist auch die Zukunft meinem Blick verhüllt,

vertrau ich still.

Seitdem ich weiß, dass sich Dein Plan erfüllt,

vertrau ich still.

Seh ich nicht mehr als nur den nächsten Schritt,

mir ist’s genug!

Mein Herr geht selber mit.

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2012, Heft 1, Seite 1

Bibelstellen: Jes 42,1-4

Stichwörter: Docht, Rohr