Eine kleine Zeit

(Johannes 16,16-22)

„Eine kleine Zeit, und ihr schaut mich nicht mehr, und wieder eine kleine Zeit, und ihr werdet mich sehen, weil ich zum Vater hingehe“ (Johannes 16,16).

„Keine Zeit“ – das ist ein Ausdruck, den wir gut kennen. Oft hören wir ihn, und manchmal haben wir ihn sicherlich auch selbst schon benutzt. Dagegen sind die Worte „eine kleine Zeit“, die der Herr in Johannes 16,16 benutzt, für uns eher ungewöhnlich. Auch für die Jünger waren sie nicht auf den ersten Blick zu verstehen. Es waren Worte, die im Folgenden noch zweimal wiederholt werden (V. 17.19). Offensichtlich sind sie von besonderer Bedeutung. Und in der Tat deutet der Herr damit eine Abfolge wichtiger Ereignisse an, die eine mehrfache Bedeutung und Erfüllung haben. Wir können sie für uns in der Vergangenheit, in der Gegenwart und in der Zukunft erkennen.

Der Tod und die Auferstehung des Herrn

Zunächst einmal weisen die Worte des Herrn Jesus auf Seinen Tod und Seine Auferstehung hin. Er hatte in den vorangegangenen Versen von der neuen Schöpfung gesprochen. Damit diese aber entstehen konnte, waren Sein Tod und Seine Auferstehung nötig (V. 16). Der Herr spricht im Johannes-Evangelium oft von Seinem Tod, ohne ihn jedoch direkt zu erwähnen. So auch hier: „Eine kleine Zeit, und ihr schaut mich nicht mehr“ – in wenigen Stunden würde Er sterben. Sie würden Ihn nicht mehr sehen können, Ihn nicht mehr bei sich haben und traurig sein (V. 20). Aber das würde nicht immer so bleiben. Denn: „Wieder eine kleine Zeit, und ihr werdet mich sehen“ und „eure Traurigkeit wird zur Freude werden“. Er würde nicht im Tod bleiben, Er würde auferstehen, und sie würden Ihn als den Auferstandenen, jenseits des Todes und der Macht Satans, sehen können. Die Evangelien und auch 1. Korinther 15,4-8 berichten davon, wie der Herr während der 40 Tage zwischen Seiner Auferstehung und Himmelfahrt immer wieder verschiedenen der Seinen erschien. Petrus spricht davon in Apostelgeschichte 10,40.41: „Diesen hat Gott am dritten Tag auferweckt und ihn sichtbar werden lassen, nicht dem ganzen Volk, sondern den von Gott zuvor erwählten Zeugen, uns, die wir mit ihm gegessen und getrunken haben, nachdem er aus den Toten auferstanden war.“ Von einer solchen Begebenheit berichtet Johannes 20,19.20. Dort kommt der Herr Jesus am ersten Tag der Woche mit den Worten „Friede euch!“ in die Mitte der Jünger, die aus Furcht vor den Juden die Türen verschlossen haben. Als Er ihnen dann Seine Hände und Seine Seite zeigt, „freuten sich die Jünger, als sie den Herrn sahen“. Ihre Traurigkeit weicht der Freude.

Diesen Wechsel von Traurigkeit zu Freude illustriert der Herr in Vers 21 mit einem Bild – der Geburt eines Kindes. Und wie immer, wenn Er ein Bild benutzt, ist es völlig passend. Die Mühen und Schmerzen, die eine Frau bei der Geburt hat, lassen sich mit der Not und Traurigkeit der Jünger vergleichen, die über sie kam, als ihr Meister starb. Doch unmittelbar nach der Geburt eines Kindes ist aller Schmerz vergessen und große Freude erfüllt das Herz. So erging es auch den Jüngern, als sie den Herrn wiedersahen und Er sie dann mit Sich als dem Auferstandenen in Verbindung brachte. Und wie eine natürliche Geburt der Beginn eines Lebens ist, bedeutete Seine Auferstehung nach vollbrachtem Werk am Kreuz den Beginn der neuen Schöpfung.

Sichtbar in der Gegenwart

Die Worte „wieder eine kleine Zeit, und ihr werdet mich sehen“ gelten jedoch auch für die heutige Zeit, während der Er im Himmel ist und wir Ihn zwar nicht mehr mit den natürlichen Augen, aber mit den Augen unserer Herzen sehen können. Das macht der Nachsatz „weil ich zum Vater hingehe“ deutlich – ein Satz, der zunächst etwas widersprüchlich erscheinen könnte. Denn gerade die Tatsache, dass Er zum Vater ging, brachte es ja mit sich, dass Er buchstäblich nicht mehr zu sehen war. Aber Seine Rückkehr in den Himmel war auch die Voraussetzung dafür, dass der Heilige Geist auf die Erde kommen konnte. Davon hatte der Herr in Vers 7 gesprochen: „Es ist euch nützlich, dass ich weggehe, denn wenn ich nicht weggehe, wird der Sachwalter nicht zu euch kommen; wenn ich aber hingehe, werde ich ihn zu euch senden.“ Das ist zu Pfingsten geschehen, „eine kleine Zeit“ nach der Himmelfahrt des Herrn. Der Heilige Geist wohnt jetzt in den Gläubigen, und durch Sein Wirken können wir den Herrn auch heute im Geist wahrnehmen und erkennen. Zwei Stellen im Hebräerbrief sprechen von diesem Sehen mit den Augen des Glaubens: „Wir sehen aber Jesus, der ein wenig unter die Engel wegen des Leidens des Todes erniedrigt war, mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt – so dass er durch Gottes Gnade für alles den Tod schmeckte“, und: „hinschauend auf Jesus, den Anfänger und Vollender des Glaubens“ (Heb 2,9; 12,2). Was für ein Vorrecht ist das! Nutzen wir es? Nehmen wir uns Zeit, um uns mit dem auferstandenen und verherrlichten Christus zu beschäftigen, um Ihn in Seinem Wort zu suchen, um etwas von Seinen Schönheiten und Herrlichkeiten zu entdecken? Das macht das Herz glücklich und bewirkt eine Veränderung in unserem Leben: „Wir alle aber, mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn anschauend, werden verwandelt nach demselben Bild von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, als durch den Herrn, den Geist“ (2. Kor 3,18).

Die Himmelfahrt und Wiederkunft des Herrn

Ihre zukünftige Erfüllung werden die Worte des Herrn finden, wenn Er für die Seinen wiederkommen wird. Dann werden wir Ihn sehen, „wie er ist“ (1. Joh 3,2), und werden uns ewig an Ihm erfreuen (Joh 16,22). Dieser Augenblick ist nicht mehr fern. Darauf weist auch Hebräer 10,37 hin, wo derselbe Ausdruck gebraucht wird: „Denn noch eine ganz kleine Zeit, und der Kommende wird kommen und nicht ausbleiben.“ Das will sagen, dass der Herr gewissermaßen schon unterwegs ist. Sein Kommen steht also nahe bevor! Dann wird Er uns in die Herrlichkeit des Vaterhauses einführen. Und auch dafür war es nötig, dass Er „zum Vater hinging“, da Er uns die Stätte beim Vater durch Sein vollbrachtes Erlösungswerk und Sein anschließendes Eintreten als Mensch in den Himmel bereitet hat (Joh 14,2.3). Aber nicht nur wir werden Ihn sehen. Bezeichnenderweise heißt es in Vers 22: „Ich werde euch wiedersehen.“ Das fällt auf, nachdem der Herr vorher immer davon gesprochen hat, dass die Jünger Ihn sehen würden. Kommt in diesen Worten nicht Sein tiefes Verlangen nach den Seinen und Seine große Liebe zu ihnen zum Ausdruck? Was für einen Herrn und Heiland haben wir! Ihn wollen wir erwarten, denn die Gewissheit Seines baldigen Kommens gibt uns – wie den Jüngern
damals – Kraft und Mut, in Schwierigkeiten auszuharren. Und die tägliche Erwartung unseres Herrn Jesus Christus bewirkt auch, dass wir in praktischer Heiligkeit unseren Weg gehen: „Und jeder, der diese Hoffnung zu ihm hat, reinigt sich selbst, wie er rein ist“ (1. Joh 3,3).

S. Ulrich

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2012, Heft 5, Seite 129

Bibelstellen: Joh 16,16-22