„Damit die Schrift erfüllt würde“

(Johannes 19,19-42)

Beim Lesen dieser Verse im Johannes-Evangelium fällt auf, dass wiederholt die Worte „damit die Schrift erfüllt würde“ gebraucht werden (V. 24.28.36.37). Diese Worte machen deutlich, dass alles, was den Herrn am Kreuz traf, in voller Übereinstimmung mit den Schriften des Alten Testaments geschah. Und nicht nur diese Verse, sondern auch andere Einzelheiten in diesem Abschnitt zeigen, wie die mächtige Hand Gottes die Menschen und Umstände am Kreuz so führte, dass Sein Ratschluss erfüllt und die Herrlichkeit der Person des Herrn Jesus offenbart wurde. Oftmals waren es gerade die Feinde des Herrn Jesus, die ohne es zu wollen dazu beitrugen.

Er ging hinaus

Unmittelbar nachdem Pilatus den Herrn zum Tod verurteilt hatte und somit die Juden ihr Ziel erreicht hatten, nahmen sie Jesus und führten Ihn fort (V. 16). Doch dann heißt es in Vers 17 bezeichnenderweise: „Und sein Kreuz tragend, ging er hinaus.“ Er selbst, der Sohn Gottes, war der Handelnde, der in völliger Souveränität und Freiwilligkeit Seinen Weg bis hin an das Kreuz ging. Etwas Ähnliches findet sich schon in den Versen 4 und 5, wo es heißt, dass Pilatus zu der Volksmenge sagte: „Siehe, ich führe ihn zu euch heraus“, und dann weiter: „Jesus nun ging hinaus, die Dornenkrone und das Purpurgewand tragend.“ Das sind Einzelheiten, in denen wir Schönheiten der Person unseres Herrn und Heilandes erkennen können.

Und wer dächte bei dem Holz, das Abraham schon über 2000 Jahre vorher auf seinen Sohn Isaak legte, nicht an das Kreuz von Golgatha?

Auch dass der Herr Jesus aus Jerusalem „hinausging“, um auf Golgatha gekreuzigt zu werden, stand in Übereinstimmung mit den alttestamentlichen Bildern. Wir denken an die Verordnungen zum Sündopfer in 3. Mose 4. Der Stier musste außerhalb des Lagers gebracht werden, um dort auf Holzscheiten verbrannt zu werden (V. 12). Auch in 3. Mose 16 mussten am großen Versöhnungstag der Stier und der Bock des Sündopfers außerhalb des Lagers geschafft werden (V. 27). Ähnlich war es auch mit dem Opfer der roten jungen Kuh in 4. Mose 19, die vor das Lager hinausgeführt wurde, um dann geschlachtet zu werden (V. 3). So wird schon hier deutlich, wie Gott alles nach seinen Gedanken führte.

Jesus aber in der Mitte

Vers 18 ist ein kurzer, aber inhaltsreicher Vers. Das Geschöpf bringt seinen Schöpfer ans Kreuz, ob bewusst oder nicht! Doch auch diese Bosheit des Menschen musste zur Erfüllung göttlicher Prophezeiungen dienen. Das wird in diesem kurzen Vers deutlich.

Da war zum einen die Art und Weise, in der der Herr sterben sollte. Die Juden unterstanden der römischen Besatzungsmacht und hatten nicht mehr das Recht, die Todesstrafe zu vollstrecken. Zwar übergab Pilatus den Herrn „ihrem Willen“ (Lk 23,25), denn sie waren die eigentlichen Veranlasser, aber es geschah, „damit Er gekreuzigt würde“ – nach römischem Recht durch ein römisches Exekutionskommando -, nicht wie bei den Juden durch Steinigung. Nun heißt es aber in Lukas 23,23, dass auch die Juden Pilatus in den Ohren lagen, „dass er gekreuzigt würde“, nachdem dieser dreimal versucht hatte, Ihn freizusprechen. Wie schändlich, dass auch sie selbst die unmenschlichste Todesstrafe der Heiden für den Herrn forderten! Aber es musste so sein. Schon während der Wüstenreise des Volkes Israel hatte Gott im Bild der feurigen Schlange, die an einer Stange zur Rettung des Volkes aufgerichtet wurde (4. Mo 21,8), einen Hinweis darauf gegeben. Den Bezug dieses Bildes zu seinem eigenen Tod am Kreuz hat der Herr ja selbst bestätigt (Joh 3,14). Auch David hatte schon lange vorher ausrufen müssen: „Sie haben meine Hände und meine Füße durchgraben“ (Ps 22,17).

Zum andern wird berichtet, dass der Herr in der Mitte von zwei anderen gekreuzigt wurde (es waren Übeltäter, wie die anderen Evangelisten berichten). Das brachte zum Ausdruck, was die Menschen vom Herrn Jesus hielten. So sehr verachteten sie Ihn. Und doch musste es genau so sein, wenn Jesaja 53,12 erfüllt werden sollte, wo angekündigt worden war, dass der Herr „den Übertretern beigezählt worden ist“.

Die Aufschrift auf dem Kreuz

Offensichtlich ließ Pilatus die Aufschrift mit den Worten „Jesus, der Nazaräer, der König der Juden“ auf dem Kreuz des Herrn befestigen, um die Juden zu verspotten. Dieser Nazaräer, der hier verachtet und gekreuzigt hing, der sollte ihr König sein? Aber Gott nutzte diese Aufschrift, um selbst am Kreuz noch einmal die Herrlichkeit seines Sohnes als des wahren Königs Israels bezeugen zu lassen. Ja, schon vor Seiner Geburt hatte Gott durch den Engel zu Maria sagen lassen: „Dieser wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden; und Gott der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben; und er wird über das Haus Jakobs herrschen in Ewigkeit, und sein Reich wird kein Ende haben“ (Lk 1,32.33). Kurz nach Seiner Geburt waren dann die Magier aus dem Morgenland gekommen, um dem König der Juden, der geboren worden war, zu huldigen (Mt 2,2). Zu Beginn der Leidenswoche hatten die Volksmengen gerufen: „Hosanna! Gepriesen sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König Israels!“ (Joh 12,13). Und vor Pilatus hatte der Herr selbst von Seinem Reich gesprochen und davon, dass Er ein König sei (Joh 18,36.37). Jetzt ließ Pilatus diese Tatsache – wenn auch mit einer ganz anderen Absicht – noch einmal für alle gut lesbar in den drei damals bekanntesten Sprachen Hebräisch, Lateinisch und Griechisch bezeugen. So wachte Gott selbst im Tod über die Ehre Seines hier so tief erniedrigten, geliebten Sohnes. Der Grimm des Menschen musste Ihn preisen (Ps 76,11).

Die Verlosung Seiner Kleider

Nachdem die Soldaten den Herrn gekreuzigt hatten, nahmen sie Seine Kleider, die sie Ihm ausgezogen hatten, und verteilten sie unter sich. Es war damals üblich, dass die Kleider eines zum Tod Verurteilten den Henkern gegeben wurden. Unter den Kleidern des Herrn war auch das Untergewand, das „ohne Naht, von oben an durchgehend gewebt“ war (Joh 19,23). Nur Johannes erwähnt dieses kostbare Kleidungsstück – und das sicherlich nicht ohne Grund. Dieses nahtlose Unterkleid lässt uns an die Vollkommenheit der Person des Herrn, an die völlige Übereinstimmung zwischen Seinen Worten und Taten und an die Ausgewogenheit in Seinem Zeugnis hier auf der Erde denken. Und alles an Ihm zeugte davon, dass Er von oben kam und über allen war (Joh 3,31). Dieses Untergewand wurde nicht zerteilt. Selbst die Soldaten erkannten den Wert dieses Kleidungsstücks und zerrissen es nicht, sondern losten darum, wem es gehören sollte. Auch dieses Tun der Soldaten musste genau so geschehen, „damit die Schrift erfüllt wurde, die spricht: Sie haben meine Kleider unter sich verteilt, und über mein Gewand haben sie das Los geworfen“ (V. 24; Ps 22,19). Wieder wird deutlich, dass Gott hinter allem stand und darüber wachte, dass alle Seine Worte in Erfüllung gingen.

Mich dürstet!

Nachdem wir bisher gesehen haben, wie Gott das Tun böser Menschen führte, um „die Schrift zu erfüllen“, finden wir in Johannes 19,28.29 eine Szene von besonderer Schönheit. Hier sehen wir den Herrn selbst handeln, „damit die Schrift erfüllt wurde“. Nach sechs Stunden größter Leiden am Kreuz zeigt sich Seine göttliche Vollkommenheit noch einmal. In voller Kenntnis des gesamten Wortes Gottes wusste Er um eine Prophezeiung, die noch erfüllt werden musste. Und Er, der Wasser aus dem geschlagenen Felsen hervorkommen ließ und Wasser in Wein verwandelt hatte, stillte hier nicht Sein eigenes Bedürfnis. Er sagte „Mich dürstet!“, um dadurch den Anlass zu geben, dass das Wort aus Psalm 69,22 erfüllt werden konnte: „In meinem Durst gaben sie mir Essig zu trinken.“ Wie muss es den Vater erfreut haben, dass Sein Sohn in größter Not noch daran dachte.

Das Tun der Soldaten

Auf Wunsch der Juden gab Pilatus den Befehl, dass den Gekreuzigten die Beine gebrochen werden sollten. Und was auf diesen Befehl folgte, zeigt wieder die Souveränität Gottes, Seine absolute Kontrolle über das ganze Geschehen. Wir finden, dass die Soldaten etwas nicht taten, was sie tun sollten, und etwas taten, wozu sie keinen Auftrag hatten. Und beides war nötig, um die Schrift zu erfüllen. Die Soldaten sollten den Gekreuzigten die Beine brechen, wie es bei den Römern üblich war, um den Eintritt des Todes zu beschleunigen. Das taten sie auch bei den beiden anderen Gekreuzigten. Dadurch trugen sie unbewusst auch dazu bei, dass in Bezug auf den einen Räuber das Wort des Herrn erfüllt wurde: „Heute wirst du mit mir im Paradies sein“ (Lk 23,43).

Bei dem Herrn führten die Soldaten ihren Auftrag jedoch nicht aus. Sie hätten es auch nicht tun können, denn sonst wäre die Schrift nicht erfüllt worden, die sagt: „Kein Bein von ihm wird zerbrochen werden“ (vgl. Ps 34,21). Auch die entsprechende Anordnung in Verbindung mit dem Passahlamm (2. Mo 12,46) hätte nicht ihre Erfüllung gefunden. Doch dann tat einer der Soldaten etwas, wozu er keinen Auftrag hatte und was bei den Römern wohl auch nicht üblich war – er durchbohrte mit einem Speer die Seite des schon gestorbenen Herrn, um sich von Seinem Tod zu überzeugen. Dadurch wurde die Grundlage gelegt, dass die Weissagung Sacharjas einmal erfüllt werden kann: „Sie werden auf mich blicken, den sie durchbohrt haben“ (Sach 12,10). Dass aus der durchbohrten Seite des schon gestorbenen Herrn sogleich Blut und Wasser getrennt herauskamen, war ein deutliches Zeichen vonseiten Gottes. Dadurch gab Er Zeugnis vom Tod Seines geliebten Sohnes und von den wunderbaren Ergebnissen, die aus diesem Tod hervorkommen.

Das Tun von Joseph und Nikodemus

In den Versen 38 und 39 treten mit Joseph von Arimathia und Nikodemus zwei Männer auf, die angesichts des Todes des Herrn großen Mut gewannen und größte Wertschätzung für ihren Herrn zeigten. An ihnen wird deutlich, dass Gott immer Seine Werkzeuge hat, um Seine Vorsätze auszuführen. Der Prophet Jesaja hatte lange Zeit vorher in Bezug auf den Herrn Jesus geweissagt, dass Er in Seinem Tod bei einem Reichen sein würde (Jes 53,9). Jetzt sorgte Gott dafür, dass dieser reiche Mann erschien, Joseph von Arimathia (Mt 27,57). Joseph bekam den Leib Jesu von Pilatus, und zusammen mit Nikodemus bereitete er ihn mit kostbaren Gewürzsalben zum Begräbnis zu. Auch hierin wurden Ihm die Ehren eines Königs Israels zuteil (2. Chr 16,14).

Die neue Gruft

Dann legten sie den Leib ihres gestorbenen Meisters in eine neue Gruft in einem nahe gelegenen Garten. Nur Johannes erwähnt, dass sich die Gruft in einem Garten befand. Lässt uns das nicht an einen anderen Garten denken, in dem der erste Mensch unter den Fluch kam, aber auch einen ersten Hinweis auf die Erlösung bekam (1. Mo 3)? Hier, ungefähr 4000 Jahre später, sehen wir den „letzten Adam“, der den Fluch auf sich nahm und das Erlösungswerk vollbrachte. Es wird auch betont, dass in diese Gruft noch nie jemand gelegt worden war (V. 41). Wenn Gott durch den Psalmisten David hatte sagen lassen: „Du wirst nicht zugeben, dass dein Frommer die Verwesung sehe“ (Ps 16,10), dann schloss das ein, dass Er auch nicht von außen in irgendeiner Form mit Verwesung in Berührung kam. Auch beim Opfer der roten jungen Kuh in 4. Mose 19 war schon angeordnet worden, dass die Asche der verbrannten Kuh gesammelt und außerhalb des Lagers an einen reinen Ort geschüttet werden sollte (4. Mo 19,9). Es musste also eine neue Gruft sein, wenn die Schrift erfüllt werden sollte.

Was für einen Eindruck bekommen wir doch beim Überdenken dieser Verse von der Größe und Souveränität Gottes! Wie groß wird uns unser Herr und Heiland, der nicht gekommen war, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen, sondern sie zu erfüllen (Mt 5,17)! Er hat den Ratschluss Gottes völlig ausgeführt.

„Der ich von Anfang an das Ende verkünde und von alters her, was noch nicht geschehen ist; der ich spreche: Mein Ratschluss soll zustande kommen, und all mein Wohlgefallen werde ich tun“ (Jes 46,10). S. Ulrich

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2013, Heft 1, Seite 13

Bibelstellen: Joh 19,19-42