Aus Ägypten bis nach Kanaan
Man hat oft vermerkt, dass wir im Neuen Testament im Anschluss an die Evangelien und die Apostelgeschichte vornehmlich die christliche Lehre finden. Das Alte Testament zeigt uns dagegen in erster Linie die Geschichte des Menschen und des Volkes Israel. Ist aber das der tiefere Sinn des Alten Testaments? Sicherlich nicht. Gott will uns nicht nur zeigen, wie die Geschichte (Schöpfung, Entstehung Israels, Entwicklung des Königtums, usw.) wirklich abgelaufen ist. Er zeigt uns viel mehr. Nicht von ungefähr hat man gesagt, das Alte Testament sei das Bilderbuch der neutestamentlichen Lehre.
Das Alte Testament zeigt uns jedoch in der Regel nicht ein Bild der neutestamentlichen Stellung des Christen. Es offenbart uns, wie wir diese Stellung praktisch verwirklichen. Die Berechtigung dafür, diesen Teil der Schrift in einer solchen Weise auszulegen, finden wir mehrfach im Neuen Testament. In Römer 15,4 lernen wir, dass die Geduld und das Ausharren der alttestamentlich Gläubigen dazu ermutigen, es ihnen gleichzutun.
In 1. Korinther 10,6.11 wird uns gesagt, dass die alttestamentlichen Begebenheiten eine neutestamentliche Bedeutung haben. Es handelt sich um Bilder der neutestamentlichen Wahrheit. Das wollen wir im Blick auf wesentliche Stationen der Reise Israels aus Ägypten bis nach Kanaan, die bildliche Hinweise auf die Befreiung des Christen geben, richtig verstehen.
Ägypten – ein Bild der Welt als System Satans
In Ägypten befand sich das Volk Israel in Knechtschaft, wie man am Anfang von 2. Mose lesen kann. Diese Herrschaft wurde vom Herrscher Ägyptens ausgeübt: dem Pharao. Aus dieser Sklaverei konnte sich das Volk nicht selbst befreien.
So, wie sich das Volk damals in der Sklaverei dieses Landes und des Pharao befand, steht heute jeder Mensch unter der Herrschaft der Welt und Satans. Satan hat hier ein System aufgerichtet, in dem er der Herr, Fürst und Gott ist (vgl. Joh 16,11; 2. Kor 4,4). Dieses System hält den Menschen gefangen und führt ihn in den ewigen Tod, wenn er nicht zuvor aus ihm befreit wird (Gal 1,4).
Befreiung aus Ägypten durch das Passah und das Rote Meer
Gott hat das Volk Israel aus Ägypten durch zwei Mittel errettet: Zunächst starb ein Lamm für jedes Haus Israels, so dass alle Erstgeborenen des Volkes vom Gericht Gottes verschont werden konnten. Damit aber waren die Israeliten noch nicht aus Ägypten befreit. Sie mussten auch noch durch das Rote Meer ziehen, um dieses Land und seinen Herrschaftsbereich verlassen zu können.
Diese beiden Begebenheiten haben eine geistliche Bedeutung: So, wie anstelle des Erstgeborenen in Israel ein Lamm sterben musste, ist der Herr Jesus stellvertretend für jeden Menschen gestorben, der sich zu Ihm bekehrt (vgl. 1. Kor 5,7). Ihn traf das Gericht für unsere Sünden. Und dadurch, dass Er dieses Gericht auf sich genommen hat, werden alle, die den Tod Christi für sich in Anspruch nehmen, von der ewigen Strafe Gottes befreit (vgl. Mk 10,45; 2. Kor 5,21).
Gott hat uns aber auch aus dieser Welt herausgenommen (vgl. Gal 1,4). Paulus sagt: „Unser Herr Jesus Christus, durch den mir die Welt gekreuzigt ist, und ich der Welt“ (Gal 6,14). Wie ist das möglich? „Oder wisst ihr nicht, dass wir, so viele auf Christus Jesus getauft worden sind, auf seinen Tod getauft worden sind? So sind wir nun mit ihm begraben worden durch die Taufe auf den Tod, damit, so wie Christus aus den Toten auferweckt worden ist durch die Herrlichkeit des Vaters, so auch wir in Neuheit des Lebens wandeln. Denn wenn wir mit ihm einsgemacht worden sind in der Gleichheit seines Todes … So auch ihr, haltet dafür, dass ihr der Sünde tot seid, Gott aber lebend in Christus Jesus“ (Röm 6,3-5.11). Als das Volk Israel durch das Rote Meer ging, verschwand es gewissermaßen unter der Oberfläche des Wassers, wie das auch für einen Getauften und einen Begrabenen gilt: Man sieht sie nicht mehr. So spricht der Durchzug durch das Rote Meer bildlich von unserem Gestorbensein mit Christus.
Christus ist gestorben. Aber Er ist nicht nur stellvertretend für uns gestorben. Sein Tod war zugleich unser Tod (Röm 6,5). Wir sind mit Ihm gestorben, als Er damals am Kreuz hing: So sieht es Gott, und so haben wir es durch unsere Taufe bekannt. An uns liegt es nun, diese Wahrheit auch zu verwirklichen. Das zeigt der Durchzug durch das Schilfmeer.
Weder diese Welt, die unter der Herrschaft Satans steht, noch Satan selbst, noch die Sünde haben irgendeine Möglichkeit, einen „Toten“ zu beeinflussen. Sie haben über ihn keine Macht. Da wir der Stellung nach Gestorbene sind, gilt das auch für uns, die wir an den Herrn Jesus glauben. Tatsächlich aber tragen wir noch das Fleisch, die alte Natur an uns. Daher werden wir in Römer 6,11 aufgefordert, uns dafür zu halten, der Sünde tot zu sein.
Wir sehen also, dass zur Befreiung aus der Macht und Sklaverei Satans und der Welt zwei Dinge nötig waren:
1. Der Tod Christi, stellvertretend für uns.
2. Der Tod Christi, der unser Tod war: Wir sind mit Ihm gestorben.
Bevor ein Mensch aus der Macht Satans befreit werden kann, muss die Frage der Sünde zwischen ihm und Gott geregelt sein (Passah). Die eigentliche Befreiung ist dann sein Einsmachen mit dem Tod Christi (Durchzug durch das Rote Meer). Ein Christ kennt praktischerweise die Befreiung von Sünde und Welt, wenn er diese beiden Punkte in seinem Leben erfasst hat.
Wüste (die irdischen Umstände) – Jordan (Tod und Auferstehung) – Kanaan (Himmel)
Nach dem Durchzug durch das Rote Meer kam das Volk Israel in die Wüste. Das ist das Thema von 2. und
4. Mose. Die Wüste ist ein Bild des Lebens des Gläubigen in dieser Welt (vgl. Joh 17,11), in irdischen Umständen. Denn in 1. Korinther 10,1-13 wendet der Apostel diese Wüstenreise auf das Leben der Christen in irdischen Umständen an. Der Erlöste erlebt in seinem Beruf, in der Nachbarschaft und auch in seiner Familie Erprobungen. Auch in seinen Beziehungen innerhalb der Versammlung Gottes muss er sich im Glauben bewähren.
Die Wüste war jedoch nicht das Ziel Gottes für sein Volk. Er wollte es nach Kanaan führen. Dazu mussten sie durch den Jordan ziehen. Dahin wollte Gott sein Volk von Anfang an führen (vgl. 1. Mo 12,1; 15,16; 2. Mo 3,8).
Was für eine geistliche Bedeutung hat dieses Land für den Christen? Es ist ein Hinweis auf den Himmel. Aber Kanaan stellt nicht den Himmel in dem Sinn dar, dass es das zukünftige Ziel des christlichen Lebens ist, wo der Gläubige sein wird, wenn ihn der Herr Jesus in den Himmel holt. Dieses Land ist ein Bild von dem himmlischen Bereich, in dem der Erlöste sich heute schon befindet. Im Epheserbrief wird dieser Bereich genannt: die himmlischen Örter, in denen er in Christus Jesus ist (vgl. z.B. Eph 2,6). Die endgültige Befreiung von der Gegenwart der Sünde findet erst beim Wiederkommen Christi statt.
Warum ist Kanaan nicht der Himmel in absolutem Sinn?
Zunächst möchte ich begründen, warum Kanaan für den Christen den Himmel „heute“ darstellt. Es gibt mindestens drei Gründe dafür, dass Kanaan nicht der Himmel sein kann, den wir mit dem Wiederkommen Jesus erreichen werden:
1. Im Land Kanaan gab es viele Kämpfe, sogar mehr als in der Wüste: Wenn wir einmal körperlich im Himmel sein werden, wird es keinen Kampf mehr geben. Dann werden wir Christus einfach genießen. Heute aber gibt es noch Kampf, und zwar gegen die geistlichen Mächte der Bosheit in den „himmlischen Örtern“ (Eph 6,10-20). Das ist der Himmel, wie er für uns heute zugänglich ist.
2. Im Land Kanaan gab es viele Feinde. Wenn wir einmal im Himmel angekommen sind, werden wir nichts mehr mit Feinden zu tun haben. Es ist zwar wahr, dass Satan noch eine Zeit lang Zugang zum Himmel haben wird (vgl. Off 12,7 ff.). Aber die Erlösten der Gnadenzeit haben zu dieser Zeit mit ihm und seinen Dämonen nichts mehr zu tun. Heute dagegen kämpfen sie nicht gegen Fleisch und Blut, sondern gegen diese Fürstentümer in den himmlischen Örtern (Eph 6,12).
3. Das Volk Israel konnte aus dem Land Kanaan vertrieben werden. Die Bewohner des Nordreichs wurden beispielsweise nach Assyrien verschleppt, die des Südreichs später nach Babel. Aus dem Himmel können wir nicht mehr vertrieben werden, wenn wir einmal bei Christus sind. Anders ist es allerdings, wenn wir unseren Aufenthalt heute in den himmlischen Örtern ansehen. Wenn wir nicht wachsam sind, so dass wir sündigen, oder wenn unser Interesse an den geistlichen Segnungen abnimmt, werden wir die himmlischen Segnungen nicht genießen (Eph 6,10-20).
Aus diesen Gründen stellt uns Kanaan den heute zugänglichen Himmel vor, der im Epheserbrief „die himmlischen Örter“ genannt wird. Dieser „Ort“, den wir geistlicherweise kennen, also im Glauben, ist Gottes eigentliches Ziel für das Leben des Gläubigen.
Wüste – Kanaan: nacheinander und doch für uns gleichzeitig
Wir haben gesehen, was die einzelnen Stationen der Reise des Volkes Israel bedeuten. Nun stellt sich folgende Frage: Wie kann man diese einzelnen „Puzzleteile“ zu einem Gesamtbild zusammenfügen? Inwiefern bilden sie überhaupt ein gemeinsames Bild?
Nachdem das Volk Israel Ägypten durch das Rote Meer verlassen hatte, war es zuerst in der Wüste, dann durchschritt es den Jordan, schließlich wohnte es im Land Kanaan. Jedenfalls ist deutlich, dass Israel diese Stationen nacheinander erlebte. Gilt das auch für uns heute?
Der Stellung nach: nein! Es ist wichtig zu verstehen, dass der Christ beide Bereiche – Wüste und Land, Welt und Himmel, parallel erlebt. Aus der Welt sind wir herausgenommen worden (Ägypten, Gal 1,4). Aber wir befinden uns sowohl in der Wüste als auch im Land. Wir leben noch in der Welt, auch wenn wir nicht von der Welt sind, und sind doch geistlicherweise „parallel“ in den himmlischen Örtern.
Das ist allerdings nur die eine Seite. Das Alte Testament ist, wie gesagt, als Bilderbuch des Neuen Testaments bezeichnet worden. Im Neuen Testament finden wir besonders die christliche Stellung vorgestellt. Wie bereits ausgeführt ist das Alte Testament jedoch im Allgemeinen kein Bilderbuch der christlichen Stellung als solcher. Es ist ein Bild davon, wie wir Christen diese Stellung praktisch verwirklichen.
Was der Epheserbrief uns zum Beispiel lehrmäßig vorstellt, wird uns im Buch Josua praktisch erklärt. Im Epheserbrief lernen wir, dass jeder Christ der Stellung nach mit dem Herrn Jesus im Himmel verbunden ist. Ihm stehen alle Segnungen des Himmels von seiner Errettung an zur Verfügung. Wir lesen dort nicht, dass wir, wenn wir treu sind, in Christus mitsitzen in den himmlischen Örtern. Nein, Gott hat uns in Ihm mitsitzen lassen in diesem Bereich. Das ist eine Tatsache. Das Buch Josua zeigt uns nun, wie wir die Reichtümer in Christus als Christen praktisch in Besitz nehmen. Denn was nützt es uns, dass wir Eigentümer von Dingen sind, die wir nicht kennen und daher auch nicht genießen? Nichts!
Mit Christus gestorben und auferweckt
In der Regel versteht ein Mensch, der sich bekehrt hat, dass der Herr Jesus für seine Sünden gestorben ist. Das ist die Station des Passahlammes. Prinzipiell bekommen wir als Christen alles schon beim „Passah“ geschenkt (vgl. Eph 1,7; Kol 1,20; 1. Pet 1,18.19). Alles danach hat mit dem Wachstum in der Erkenntnis und in der Praxis des Glaubens zu tun.
Gerade Kinder gläubiger Eltern brauchen eine Zeit, bis sie erkennen, dass sie auch als Gläubige noch sündigen. Das bringt sie in Bedrängnisse, die in Römer 7 beschrieben werden. Diese Not wird durch die Angst widergespiegelt, die die Israeliten auf dem Marsch von Raemses bis zum Roten Meer charakterisierte. Der Feind war hinter ihnen, die Berge um sie herum, das Meer vor ihnen. Entrinnen schien es aus dieser Notlage nicht zu geben. Erst der Durchzug durch dieses Meer befreite sie von der Macht des Pharao und seiner Heeresmacht. Diese Überquerung symbolisiert die praktische Befreiung von der Macht Satans (Pharao), der Macht der Welt (Ägypten) und der Macht der Sünde (dem Dienst der Ägypter). Sie setzt das Bewusstsein voraus, mit Christus gestorben zu sein. Es ist zu wünschen, dass alle Leser diese Station praktisch erfahren haben.
Nach dem Ratschluss Gottes hätte das Volk nur elf
Tagereisen durch die Wüste ziehen sollen (vgl. 5. Mo 1,2). Dann wären sie am 12. Tag im Land angekommen. Vor diesem Hintergrund rücken das Rote Meer und der Jordan eng zusammen und sind Symbole für dieselbe geistliche Tatsache: Der Gläubige ist mit Christus gestorben (vgl. Röm 6,5.8; Kol 2,20; 3,3) und mit Ihm auferweckt worden (vgl. Kol 3,1; Röm 6,4.5). Denn Gott wollte das Volk aus Ägypten in das Land Kanaan bringen. Die Wüste sollte nur eine kurze Durchgangsstation sein.
Wer sich bewusst ist, dass er mit Christus gestorben ist, weiß, dass diese Welt für ihn keinen Genuss bietet. Das ist eine echte Wüstenerfahrung. Er lernt schnell, dass diese Welt für seinen inneren Menschen keine Nahrung und keine Freude bietet. Daher möchte er nach kurzer Zeit die himmlischen Segnungen genießen.
Leider brauchen auch wir manchmal 40 Jahre und mehr, um zu erkennen, dass die Welt als Wüste nicht das eigentliche Ziel Gottes für uns ist. Es ist sein Wunsch, dass wir die himmlischen Örter heute schon kennen und genießen. Dazu müssen wir verwirklichen, nicht nur mit Ihm gestorben, sondern auch mit Ihm auferweckt worden zu sein. Letztlich werden wir nur dann glücklich leben, wenn wir auch diese Glaubenserfahrung kennen.
M. Seibel
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