Der Hirten-Psalm

Der Psalm 23 enthält wunderbare Aussagen, aber alle gründen sich auf die erste große Aussage, die wunderbarste von allen: „Der HERR ist mein Hirte.“

1. Es gibt zeitliche Bedürfnisse in Fülle, doch „der HERR ist mein Hirte“, und daher wird mir „nichts mangeln“ (V. 1).

2. Es gibt geistliche Bedürfnisse, doch „der HERR ist mein Hirte“, und Er wird mich auf grüne Auen und zu stillen Wassern führen (V. 2).

3. Es mag Versagen geben, doch „der HERR ist mein Hirte“, und Er wird meine Seele wiederherstellen
(V. 3).

4. Ich mag dem Tal des Todesschattens begegnen müssen, doch „der HERR ist mein Hirte“, ich werde mich nicht fürchten (V. 4).

5. Vielleicht treten mir Feinde entgegen, doch „der HERR ist mein Hirte“, ein Tisch wird angesichts meiner Feinde vor mir bereitet (V. 5).

6. Die Ewigkeit liegt vor mir, doch „der HERR ist mein Hirte“, und Er wird mich schließlich für immer im Haus des HERRN wohnen lassen (V. 6).

„Der HERR ist mein Hirte.“

Es ist eine Sache zu sagen: „Der HERR ist der Hirte“, aber eine ganz andere zu sagen: „Der HERR ist mein Hirte.“ Das Erste ist eine Sache der Erkenntnis, das Letzte ist eine Frage der Erfahrung. „Der HERR ist mein Hirte“ ist die Sprache dessen, der den Herrn in den verschiedensten Umständen des Weges erlebt hat und sich glücklich Seiner Leitung unterstellt.

Zunächst sollten wir den Segnenden betrachten. Sicherheit, Trost und Segen der Herde sind völlig abhängig von der Fürsorge, Weisheit und Hingebung des Hirten. Wer ist mein Hirte? Der HERR. Und der HERR des Alten Testaments ist Jesus im Neuen Testament. Er ist der Mann aus Psalm 22, aber auch der Mann aus Psalm 24. In Psalm 22 ist Er der verlassene Mensch, in Psalm 24 ist Er der angenommene Mensch. In Psalm 22 ist Seine Kraft „vertrocknet wie eine Tonscherbe“. In Psalm 24 ist Er „stark und mächtig“. In Psalm 22 ist Er „ein Wurm und kein Mann“. In Psalm 24 ist Er „der HERR der Heerscharen“ und der „König der Herrlichkeit“. Das ist der, der „mein Hirte“ ist. Der, der „hinabgestiegen ist in die unteren Teile der Erde …, ist derselbe, der auch hinaufgestiegen ist über alle Himmel, damit er alles erfüllte“ (Eph 4,9.10). Er hat jede Stellung eingenommen, in der ein Mensch sein kann: von der äußersten Entfernung, in die die Sünde einen Menschen bringen kann, bis zu der höchsten Herrlichkeit, die Gott für den Menschen vorgesehen hat. Jeden Schritt auf der gewaltigen Spanne zwischen diesen Extremen ist Er gegangen und daher sind Ihm die rauen Orte und einsamen Wege gut bekannt. Mit einem solchen Hirten müssen wir uns weder vor Bösem fürchten noch über Segnungen wundern, die Er verleiht.

„Mir wird nichts mangeln.“

Mit einem solchen Hirten, so erklärt der Psalmist, kann mir nichts mangeln. Es ist in einer Welt voller Mangel und ungenügender Befriedigung von Bedürfnissen keine Kleinigkeit zu sagen: „Mir wird nichts mangeln.“ Aber mit einem großen Hirten an unserer Seite können wir auch große Dinge sagen. Jemand hat gesagt: „Nicht weil wir Schafe sind, wird uns nichts mangeln, sondern weil Er unser Hirte ist. Die Schlussfolgerung entspringt nicht dem, was wir für Ihn sind, sondern dem, was Er für uns ist.“

„Er lagert mich auf grünen Auen, er führt mich zu stillen Wassern.“

Er sorgt nicht nur für unsere zeitlichen Bedürfnisse, sondern Er sättigt uns auch mit geistlichen Segnungen. Er möchte uns von irdischen Sorgen frei machen, um unsere Seele mit himmlischen Freuden zu füllen. Er führt die Schafe nicht nur auf grüne Auen – Auen mit saftigem Gras -, sondern Er lagert sie dort auch. Kein hungriges Schaf wird sich auf grünen Auen lagern. Das hungrige Schaf wird auf den Auen mit saftigem Gras weiden, aber das gesättigte Schaf wird sich lagern und ausruhen. So versorgt uns unser Hirte nicht nur mit geistlicher Speise, sondern Er vermag auch unsere Seelen mit Befriedigung und Ruhe zu erfüllen. „Wer zu mir kommt, wird nicht hungern“ (Joh 6,35).

Darüber hinaus sorgt unser Hirte nicht nur für Nahrung und Ruhe, sondern Er erfrischt auch unsere Seelen. „Er führt mich zu stillen Wassern.“ Das sind nicht die fließenden Ströme, die irgendwann vertrocknen, sondern die tiefen, stillen Wasser des Brunnens. In 1. Mose 21 lesen wir von einer armen Frau, die in der Wüste von Beerseba umherirrte, deren Wasser im Schlauch ausgegangen war und die um ihr sterbendes Kind weinte. Plötzlich hörte sie die Stimme des Engels und wir lesen, dass Gott ihre Augen öffnete und sie einen Wasserbrunnen sah. In dieser trostlosen Wüste, den Tod vor Augen, leitete Gott dieses arme, ausgestoßene Schaf zu den tiefen Wassern der Stille.

Wie Israel damals „die Quelle lebendigen Wassers“ verließ, „um sich Zisternen auszuhauen, geborstene Zisternen, die kein Wasser halten“ (Jer 2,13), so suchen auch wir oft Befriedigung in irdischen Dingen, nur um zu erleben, dass alle irdischen Quellen irgendwann versiegen. Wenn wir dem Herrn darin vertrauen würden, dass Er nicht nur unsere Seelen erretten, sondern auch unsere Herzen befriedigen kann, dann würde Er uns auf grüne Auen führen, die nie verwelken, und zu stillen Wassern, die nie versiegen.

„Er erquickt [o. stellt wieder her] meine Seele.“

Wie oft wenden wir uns von dem Herrn ab! Und gerade nach einer Zeit tiefster geistlicher Segnungen sind wir in größter Gefahr. Wir genießen die grünen Auen und die stillen Wasser – und dann irren wir ab. In Matthäus 26 finden wir die Welt in Aufruhr: Hohepriester, Schriftgelehrte und Älteste verschwören sich, Jesus umzubringen. Aber im Obersaal ist Ruhe und Frieden. Der Herr hat Seine schwachen und müden Schafe auf grüne Auen und zu stillen Wassern geführt, indem Er ihnen vom Vaterhaus erzählte und von Seinem Wiederkommen, um sie zu Sich zu nehmen, und dann beenden sie diese Zeit inniger Gemeinschaft mit dem Singen eines Liedes. Doch gleich darauf warnt der Herr Seine Schafe, dass sich in dieser Nacht alle an Ihm ärgern und dass sie alle zerstreut würden. Gerade noch hatten sie in Gemeinschaft mit Ihm ein Lied gesungen und kurz darauf sind sie schon verärgert und zerstreut. So lesen wir, dass sie Ihn alle verließen und flohen. Doch wenn sie abirren, dann stellt Er sie wieder her. Petrus fällt und verleugnet den Herrn, doch er kann sich nicht selbst wiederherstellen. Das Gebet des Herrn für Petrus, der Blick des Herrn auf Petrus und das persönliche Gespräch des Herrn mit Petrus bewirkten seine Wiederherstellung. Die wiederhergestellte Noomi sagte, dass sie ausgegangen war, aber dass der HERR sie zurückkehren ließ.

„Er leitet mich in Pfaden der Gerechtigkeit um seines Namens willen.“

Wir verirren uns auf Pfade der Sünde, aber wenn Er uns wiederherstellt, dann leitet Er uns in Pfaden der Gerechtigkeit um Seines Namens willen. Er wird uns leiten, so zu wandeln, dass wir Seinen Namen verherrlichen. Sein Name drückt das aus, was Er ist, er steht für vollkommene Heiligkeit, sogar aus Sicht Seiner Feinde, denn sie müssen anerkennen, dass sie keine Schuld an Ihm finden. Wenn Er Seine Schafe leitet, tut Er es diesem Namen entsprechend. Er leitet in Pfaden der Gerechtigkeit, die mit Seinem Namen übereinstimmen.

„Auch wenn ich wanderte im [o. durchs] Tal des Todesschattens, fürchte ich nichts Übles, denn du bist bei mir; dein Stecken und dein Stab, sie trösten mich.“

Die Pfade der Gerechtigkeit führen vielleicht in das Tal des Todesschattens. Bei den Märtyrern war es so. Sie erlitten lieber den Tod, als zu sündigen. Sie haben „gegen die Sünde ankämpfend bis aufs Blut widerstanden“ (Heb 12,4). Warum fürchtete der Psalmdichter nichts Übles? Er führt vier Dinge an, um uns die Furcht angesichts des Todes auszutreiben.

Erstens ging er nur „durchs“ Tal. Wir fürchten uns nicht, wenn wir in einen Tunnel treten, denn wir wissen, dass wir irgendwann wieder herauskommen. Wir gehen „durch“ den Tunnel – an der anderen Seite ist strahlender Sonnenschein. Das Tal ist in der Tat dunkel, denn darüber liegt der Schatten des Todes, aber am anderen Ende ist der immerwährende Tag, der Morgen ohne Wolken.

Zweitens sollten wir nicht vergessen, dass es nur der Schatten des Todes ist. Als der gute Hirte den einsamen Weg hinunter in das dunkle Tal des Todes gehen musste, musste Er das Eigentliche des Todes in seinem ganzen Schrecken als Lohn der Sünde tragen. Wenn der Gläubige durch das Tal des Todesschattens zu gehen hat, dann begegnet ihm nur der Schatten. Die Strafe des Todes ist bezahlt, der Stachel des Todes ist beseitigt.

Trotzdem sind Schafe arme und furchtsame Geschöpfe und leicht zu verängstigen, sogar durch Schatten.
Doch es gibt eine dritte Sache, die unsere Ängste zerstreuen kann. Als der gute Hirte Seinen Weg durch
das Tal ging, war kein Mensch bei Ihm. Aber wenn wir den Weg durch das Tal beschreiten müssen, haben wir einen Begleiter. Der, der schon durch die dunklen
Todesfluten gegangen ist, begleitet uns. Wir können wirklich sagen: „Ich fürchte nichts Übles, denn du bist bei mir.“

Doch es gibt noch einen vierten Grund, warum wir uns nicht fürchten müssen, denn der Psalmdichter sagt: „Dein Stecken und dein Stab, sie trösten mich.“ Der Stecken dient der Verteidigung, der Stab der Unterstützung. Unternimmt der Feind einen letzten Angriff auf den Gläubigen, wenn dieser das Tal betritt? Dann braucht der Gläubige sich nicht zu fürchten, denn der Herr ist mit Seinem Stecken zugegen, um Sein Schaf zu verteidigen. Fürchtet sich das Schaf aufgrund seiner Schwachheit angesichts des Todes? Dann muss es nicht entmutigt sein, denn der Herr ist mit Seinem Stab da, um es zu unterstützen.

„Du bereitest vor mir einen Tisch angesichts meiner Feinde; du hast mein Haupt mit Öl gesalbt, mein Becher fließt über.“

Manche Schafe müssen vielleicht nie den Weg des Tales gehen, doch auch sie müssen Feinden begegnen, und der Herr kann Sein Volk angesichts des Feindes aufrechterhalten. Trotz der Feinde, ja sogar angesichts der Feinde bereitet der Herr einen Tisch für Sein Volk. Wir haben einen Hirten, der für Seine Schafe sorgt und sie trägt, trotz allem, was Menschen tun können, „so dass wir kühn sagen mögen: ‚Der Herr ist mein Helfer, und ich will mich nicht fürchten; was wird mir ein Mensch tun?‘“ (Heb 13,6). Aber damit nicht genug, Er trägt mich nicht nur angesichts meiner Feinde, sondern Er erfüllt mich mit Freude, denn Er salbt mein Haupt mit Öl – mit „Freudenöl“ (Ps 45,8). Und wenn das Herz von Freude erfüllt ist, dann fließt es über in Lob, wie ein Becher, der bis zum Überfließen gefüllt ist.

„Nur Güte und Huld werden mir folgen alle Tage meines Lebens; und ich werde wohnen im Haus des HERRN auf immerdar.“

Wie könnten wir bei einem solchen Hirten zu einer anderen Schlussfolgerung kommen? Der Herr geht voran, die Schafe folgen nach, und Güte und Huld bilden die Nachhut. Wie schön, dass Güte und Huld folgen – und zwar genau dort, wo sie gebraucht werden. Denn es gibt schwache, kranke und lahme Schafe, und diese Schafe hinken hinterher und folgen von fern, doch Güte und Huld werden sie „aufsammeln“. Und wie gehen wir mit schwachen und kranken Schafen um? Allzu oft gehen wir mit ihnen um wie die Hirten Israels, von denen der Prophet sagen musste: „Mit Strenge habt ihr über sie
geherrscht und mit Härte“ (Hes 34,4). Aber der Herr geht in Güte und Huld mit ihnen um. Wenn wir auch nicht auf die Barmherzigkeit unserer Mitgeschwister zählen können, dann wissen wir doch, dass uns die Güte und Huld des Herrn alle Tage unseres Lebens folgen werden.

Und wenn die Tage dieses vergänglichen Lebens ihr Ende erreicht haben, was ist mit der Zukunft, die in die Ewigkeit mündet? Der Psalmdichter schließt mit einer Antwort vollkommener Gewissheit: „Ich werde wohnen im Haus des HERRN auf immerdar.“ Das ist das herrliche Ende! Was könnte in dieser Welt größer sein, als mit dem Herrn selbst als unserem Hirten durch die Zeit zu gehen? Und wenn der Herr mein Hirte ist, wird Er mich nicht nur durch die Wüste dieser Welt führen, sondern Er wird mich schließlich in die Herrlichkeit bringen, wohin Er selbst gegangen ist.

H. Smith

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2014, Heft 8, Seite 235

Bibelstellen: Ps 23