Die zweite Missionsreise

Verfolgung und Kerker

„Als aber ihre Herren sahen, dass die Hoffnung auf ihren Gewinn dahin war, griffen sie Paulus und Silas und schleppten sie auf den Markt zu den Vorstehern. Und sie führten sie zu den Hauptleuten und sprachen: Diese Menschen, die Juden sind, verwirren ganz und gar unsere Stadt und verkündigen Gebräuche, die anzunehmen oder auszuüben uns nicht erlaubt ist, da wir Römer sind. Und die Volksmenge erhob sich zugleich gegen sie, und die Hauptleute rissen ihnen die Kleider ab und befahlen, sie mit Ruten zu schlagen. Und als sie ihnen viele Schläge gegeben hatten, warfen sie sie ins Gefängnis und befahlen dem Kerkermeister, sie sicher zu verwahren. Dieser warf sie, als er solchen Befehl empfangen hatte, in das innerste Gefängnis und schloss ihre Füße fest in den Stock“ (Apg 16,19-24).

Nachdem die listige Absicht Satans, sich in das Werk Gottes einzumischen, gescheitert war, zeigte er wieder sein wahres Gesicht und nahm erneut seine Zuflucht zur Gewalt. Er wusste, wie habsüchtig das menschliche Herz ist und wie gerade die „Herren“ der Magd durch Habsucht regiert wurden, einer Habsucht, „die“ – sagt Gottes Wort an anderer Stelle – „Götzendienst ist“ (Kol 3,5). Ihr Ärger darüber, dass nun die Hoffnung auf ihren Gewinn dahin war, war ein geeigneter Anknüpfungspunkt für Satan, schließlich die ganze Stadt in Aufruhr gegen die Knechte Gottes zu bringen.

Diese Herren standen tatsächlich geradeso unter der Macht Satans, wie es einst bei der besessenen Magd der Fall gewesen war. Und so ergriffen sie, von dem bösen Geist inspiriert, Paulus und Silas und schleppten sie auf den Markt zu den Vorstehern. Warum Lukas und Timotheus nicht bei Paulus und Silas waren, wird nicht mitgeteilt. Sicher waltete Gott in Seiner Vorsehung über allem und sorgte dafür, dass sich die beiden zu jener Zeit woanders aufhielten. Denn diesem Umstand verdankten sie es, dass sie später nicht gezwungen wurden, die Stadt zu verlassen. Es ist gar tröstlich zu sehen, wie selbst in Zeiten des Aufruhrs die Hand des Herrn regiert.

Die Anklage, die die zwei oder drei Eigner der Magd vorbrachten, entbehrte jeder Wahrheit. Nicht ein Wort hören wir indes über die Frau und deren Befreiung von dämonischer Macht, kein Wort natürlich auch über den Verlust ihres „unsauberen“ Verdienstes. Stattdessen machten sie die aufrührerische Beschuldigung geltend, dass Paulus und Silas Juden seien und dadurch die Leute der Stadt gegeneinander aufhetzten. So schürten sie Voreingenommenheit, gepaart mit religiöser Feindseligkeit. Sie warfen gleichsam das Wort „Juden“ wie ein brennendes Holzscheit in die Menge. Hatte nicht Kaiser Klaudius erst kürzlich wegen eines jüdischen Aufruhrs allen Juden geboten, sich aus Rom zu entfernen (Apg 18,2)? Und jetzt wollten zwei dieser rebellischen Juden ganz und gar ihre Stadt verwirren? Das konnte nicht zugelassen werden. Zumal sie, so der weitere Vorwurf, fremde Gebräuche verkündigten, die sie als Römer nicht annehmen oder ausüben durften. Was sie mit den „Gebräuchen“ meinten, ließen sie völlig offen. Sie wussten es offenbar ebenso wenig, wie sie etwas über die beiden Angeklagten wussten.

Das kümmerte jedoch die beiden Hauptleute (Prätoren) recht wenig. Sie stellten zwar die höchste Autorität der Kolonie-Stadt dar, unterließen es aber gänzlich, nähere Untersuchungen anzustellen und die Gegenpartei anzuhören. Damit handelten die obersten Vertreter römischer Gerichtsbarkeit im höchsten Maß gesetzwidrig und verletzten das römische Recht. Von der aufgebrachten Volksmenge angestachelt, ließen sie den beiden ungeliebten, und doch schuldlosen Männern die Kleider vom Leib reißen und befahlen, sie mit Ruten zu schlagen. Und das alles, ohne dass überhaupt ein Prozess stattgefunden hätte und ein rechtsgültiges Urteil ergangen wäre! Schreiendes Unrecht! Aber das ist der Mensch, ob hoch oder niedrig! Wenn es ihm beliebt, versucht er nicht einmal, den Anschein von Recht aufrecht zu erhalten.

„Viele Schläge“ empfingen die geschmähten Sendboten Gottes, bis der grausame „Appetit“ des Pöbels und seiner Anführer gestillt war. Es ist schwierig für uns, den Ernst und die Tragweite dieser Bestrafung recht einzuschätzen. Allein schon der Kleider beraubt zu werden, stellte eine große Schmach und Schande dar. Und dann wurden die Opfer mit dicken Zuchtruten auf das nackte Fleisch geschlagen, bis das Blut über den Rücken floss. „Viele Schläge“ – niemand zählte sie. Die Juden straften mit vierzig Schlägen weniger einen. Die Römer aber zählten nicht. Bis es den Prätoren genug schien, solange wurde geschlagen.

Paulus bezieht sich in seinem ersten Brief an die Thessalonicher auf diese Misshandlungen: „… sondern nachdem wir in Philippi zuvor gelitten hatten und misshandelt worden waren, wie ihr wisst, waren wir freimütig in unserem Gott, das Evangelium Gottes zu euch zu reden unter großem Kampf“ (Kap. 2,2). Dass er außer in Philippi noch zwei weitere Male mit Ruten geschlagen worden ist, lässt er die Gläubigen in Korinth wissen: „Dreimal bin ich mit Ruten geschlagen worden“ (2. Kor 11,25). Es müssen fast unerträgliche Leiden gewesen sein.

Nachdem sie die Tortur der Geißelung erduldet hatten, wurden die Missionare ins Gefängnis geworfen. Die Hauptleute schrieben nicht im Einzelnen vor, wie sie zu behandeln wären. Sie gaben aber dem Kerkermeister den allgemeinen Befehl, „sie sicher zu verwahren“. Das bedeutete nichts Geringeres, als dass der oberste Wachhabende mit seinem eigenen Leben für die Sicherheit der Gefangenen bürgte. Dementsprechend hart war die weitere Behandlung: Er ließ sie ins innerste, dunkle Gefängnis werfen und ihre Füße im Stock befestigen. Schmerzliche, bedauernswerte Lage! Blutend, wund, ohne das geringste Hilfsmittel, die Wunden zu behandeln, die Schmerzen zu lindern – so lagen in jener Nacht Paulus und Silas im finsteren Kerker, unfähig, ihre Position zu verändern. Das war gewiss der letzte Ort in der Welt, von dem ein missionarisches Werk ausgehen konnte. Oder etwa doch?

Gesänge in der Nacht

Vergeltung war geübt, die Strafe vollzogen, die Insassen des Gefängnisses um zwei weitere vermehrt worden. Nacht legte sich über die Szene. Alles war still, wie wir wohl annehmen können. Der Kerkermeister wusste die beiden neuen Gefangenen aufs Sicherste verwahrt. So konnte auch er sich zur Ruhe begeben und schlafen. Mindestens zwei Männer aber schliefen in jener Nacht im Gefängnis nicht.

„Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobsangen Gott; die Gefangenen aber hörten ihnen zu“ (Apg 16,25).

Was hielt die beiden wach? War es Entrüstung über die grausame Ungerechtigkeit, die ihnen widerfahren war? Machten sie sich Gedanken über ihr weiteres Ergehen? Oder waren es quälende Schmerzen, die sie nicht schlafen ließen? Das alles könnten wir gut nachvollziehen. Und doch war es etwas Anderes, Höheres, was sie nicht an Schlaf denken ließ: Ihr Herz war mit Gott beschäftigt, war von Lob und Dank Ihm gegenüber erfüllt. Sie fühlten sich gedrängt, dies zum Ausdruck zu bringen – jetzt um Mitternacht, hier im Gefängnis. Und so erfahren wir: „Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobsangen Gott.“ Wunderbarer Triumph der Gnade Gottes, Sieg des Glaubens, der in alles Gott hineinbringt und trotz widrigster Umstände Ihn preisen kann!

Dass sie beteten, wird zuerst erwähnt. Was hätten sie angesichts ihrer seelischen und körperlichen Not auch Besseres tun können, als zu Gott zu beten? Konnte nicht Er allein ihnen die Kraft schenken, ihr Los geduldig zu ertragen? Könnte Gott nach Seinem weisen Rat und Willen ihnen nicht auch die Befreiung aus ihrer misslichen Lage gewähren? Bitten dieser Art könnten wir uns vorstellen, und sie wären durchaus am Platz gewesen.

Der Umstand jedoch, dass sie laut beteten und ihr Gebet unversehens in Lobgesang überging, scheint anzudeuten, dass sie weit eher direkt mit dem Herrn Jesus und mit der Fortführung Seines Werkes beschäftigt waren. War nicht gleichermaßen der Heiland grausam gegeißelt worden, und hatte Er nicht am Kreuz von Golgatha unter unsagbaren Leiden das Sühnungswerk vollbracht? Ob das nicht vor ihnen stand? So wurde ihr Herz dahin geführt, Gott zu preisen. Sicher werden sie Ihm für die Vergebung der Sünden gedankt haben, die sie in Christus, Seinem Sohn, empfangen hatten. Sie wussten, dass Gott, der Herr, bei ihnen war; und dieses glückliche Bewusstsein ließ sie des Nachts Gott lobsingen. – Wenn wir nach einem hehren Beispiel dafür suchten, dass „Gott Gesänge gibt in der Nacht“ (Hiob 35,10) – hier finden wir es.

„Und die Gefangenen hörten ihnen zu.“ So etwas war in dem römischen Gefängnis noch nie gehört worden. Es hatte ja auch noch nie jemals zuvor Christen als Insassen gehabt. Das Normale innerhalb dieser Mauern waren bisher Verwünschungen und Flüche der
Gefangenen gewesen – Verwünschungen und Flüche, die der Ohnmacht der Häftlinge entsprangen, auch nur das Geringste an ihrer Lage ändern zu können. Und jetzt christliche Gebete und Lobgesänge! Das muss doch einen gewissen Eindruck auf sie gemacht haben; denn statt zu stören hörten sie ihnen zu. Ob nicht in jener Nacht das eine oder andere bisher so harte Herz davon berührt worden ist? Die Ewigkeit wird es einmal zeigen.

(Wird fortgesetzt) Ch. Briem

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2014, Heft 6, Seite 186

Bibelstellen: Apg 16,19-25