Gethsemane

Viel ist schon über die erschütternden und herzbewegenden Augenblicke geschrieben und gesprochen worden, die unser Herr Jesus in Gethsemane erlebte. Die nachfolgenden Zeilen können und wollen nichts Neues darüber bringen, sondern möchten dazu dienen, dass gläubige Herzen, die ihren Herrn lieben, von neuem eine tiefe, heilige und ehrfürchtige Freude im Anschauen der herrlichen Person des menschgewordenen Sohnes Gottes empfinden.

Die Geschehnisse in Gethsemane sind nächst den drei finsteren Stunden am Kreuz von Golgatha wohl diejenigen im Leben Jesu, vor denen wir mit größter Ehrfurcht stillstehen. Eine solche Haltung muss jede Beschäftigung mit dieser heiligen Szene prägen, ja ihre Voraussetzung sein.

Die vorherigen Ereignisse

Erinnern wir uns kurz an die Ereignisse, die der Begebenheit in Gethsemane vorausgingen. Es war der Vorabend des Tages der Kreuzigung. Der Herr hatte mit Seinen Jüngern das Passah gegessen, ihnen Seine letzten Mitteilungen gegeben und abschließend zum Vater gebetet (Joh 13 bis 17). Nach einem gemeinsamen Loblied (Mk 14,26) war Er mit seinen Jüngern nach Gethsemane gegangen. Nicht weit weg von ihnen, in Jerusalem, versammelten sich gleichzeitig schon Seine Feinde, allen voran Judas Iskariot. Bald würden sie nach Gethsemane kommen, um Ihn gefangen zu nehmen.

Der Herr wusste dies alles. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, den die Schrift „seine Stunde“ (Joh 8,20) und auch „eure Stunde und die Gewalt der Finsternis“
(Lk 22,53) nennt. Er „fing an, sehr bestürzt und beängstigt zu werden“ (Mk 14,33). Anlässlich der nahenden Gewalt durch Soldaten und Diener der Juden begannen die bevorstehenden Leiden der drei finsteren Stunden am Kreuz und Sein Tod vor Seine Seele zu treten. Ähnlich bestürzt sehen wir Ihn auch schon in Johannes 12,27, als die Griechen Ihn zu sehen wünschten und Er auch schon besonders an Seinen Tod dachte.

Das Gebet

Die Betrübnis „bis zum Tod“ (Mk 14,34) trieb Ihn ins Gebet zu Seinem Vater. Die bevorstehenden Leiden von Seiten der heiligen Hand Gottes und der Tod in seiner ganzen Schrecklichkeit warfen ihre Schatten voraus auf den Weg Dessen, der vollkommen sündlos war und der vor der Sünde und ihren Folgen, die Er würde tragen müssen, so sehr zurückschreckte.

Und so fiel Er – ganz allein, denn Er hatte Seine Jünger zurückgelassen – auf die Erde, um zu beten. „Vater, wenn du willst, so nimm diesen Kelch von mir weg – doch nicht mein Wille, sondern der deine geschehe!“ (Lk 22,42), so hören wir Ihn sprechen. Welche Gnade ist es doch, dass Gott uns dieses Gebet mitgeteilt hat!

Lukas schildert nur wenige Einzelheiten der äußeren Umstände in Gethsemane – so berichtet er beispielsweise von nur einem Gebet. Die anderen Evangelisten geben uns viel mehr Details, etwa das Hin- und Hergehen zu den Jüngern und die Gespräche mit ihnen. Lukas aber lässt uns einen umso tieferen Blick in die Empfindungen der Seele unseres Herrn tun. Darum ist der vergleichsweise kurze Abschnitt in Lukas 22,39-46 besonders eindrucksvoll und soll hier Gegenstand unserer Betrachtung sein.

„Niemand erkennt den Sohn als nur der Vater“ (Mt 11,27). Diese Wahrheit gilt es auch, ja vielleicht besonders, für Gethsemane zu beachten. „Nur wenn wir diese Wahrheit in heiliger Ehrfurcht festhalten“, so schreibt ein geschätzter Ausleger, „können wir das Reden und Wirken unseres Herrn auf dieser Erde verstehen und mit wahrem Nutzen verfolgen, während wir im entgegengesetzten Fall vor tausend ungelösten Rätseln stehen und zu zahllosen verkehrten Schlüssen und Auslegungen kommen“ (Rudolf Brockhaus in „Gethsemane“).

So verhält es sich insbesondere bei der Aussage Jesu in Seinem Gebet: „Nicht mein Wille, sondern der deine geschehe“. Hatte Christus etwa einen Willen, der von dem des Vaters abwich? Nein! Aber Er spricht hier als der sündlose wahre Mensch, der davor zurückbeben musste, mit Sünde beladen zu werden, von Gott zur Sünde gemacht zu werden, von Ihm verlassen zu werden und den Tod zu schmecken.

Hören wir auch hier, was der bereits zitierte Ausleger schreibt, denn man kann es wohl nicht besser sagen: „Wie wäre es möglich gewesen, dass der reine, heilige Mensch, dessen Seele in unausgesetzter, ungetrübter Verbindung und Gemeinschaft mit Gott gestanden hatte und stand, der die Liebe Gottes vollkommen kannte und ungehindert genoss, der sie allein wahrhaft zu schätzen wusste, der zugleich auch die Heiligkeit Gottes und deren Anforderungen in ihrer ganzen Größe und Ausdehnung ermessen konnte, der die Sünde hasste mit vollkommenem Hass, dessen Wonne es war, in dem Licht des heiligen Antlitzes Gottes zu stehen und zu wandeln, der deshalb auch allein fähig war, die ganze Schrecklichkeit der Sünde und des Zornes Gottes gegen die Sünde zu verstehen – wie wäre es möglich gewesen, dass ein solcher Mensch den Willen hätte haben können, von Gott verlassen zu werden? Im Gegenteil, Seine vollkommene Menschheit zeigte sich gerade darin, dass Er bittet und immer heftiger und dringender bittet, der Vater möge diesen Kelch an Ihm vorübergehen lassen. Alles, was in Ihm war, bebte vor diesem Kelch, vor den schrecklichen Stunden des Verlassenseins von Gott, zurück.“

Der Herr Jesus erlebte diese schrecklichen Augenblicke im Garten Gethsemane in völliger Gemeinschaft mit Seinem Vater. An Ihn wendet Er sich in Seinem Gebet – wie vorher immer und auch noch in den ersten Stunden am Kreuz. Erst als die Finsternis am Kreuz kam und Er mit unseren Sünden beladen war, rief Er „mein Gott“ und nannte Gott nicht Seinen Vater. Aber hier in Gethsemane ging Er mit Seinem Vater durch diese bittere Stunde, völlig eins mit dem Vater in dem Weg, der vor Ihm stand – und doch, wir haben darüber nachgedacht, gleichzeitig davor zurückschreckend.

Sein Gehorsam wurde aufs Äußerste erprobt. Satan, dieser schreckliche Feind, der „für eine Zeit“ von Christus gewichen war (Lk 4,13), schien hier zurückgekehrt zu sein, um dem Sohn Gottes den Tod in seiner ganzen Schrecklichkeit vor Augen zu stellen. Satan kam, um Ihn auf eine noch ernstere Weise zu versuchen als in der Wüste. Er, der die „Macht des Todes hat“ (Heb 2,14), wollte Ihn unbedingt von Seinem Weg des Gehorsams abbringen.

Ob es deswegen auch zu dem ringenden Gebetskampf kam (Lk 22,44)? „Er betete heftiger“, so sagt uns Gottes Wort. Der Gläubige steht in großer Ehrfurcht vor diesen Worten. Wer könnte fassen, was der Herr Jesus hier empfand, was dieses heftigere Beten beinhaltete? Sein Leiden und Seine Not waren so groß, dass Sein Schweiß wie große Blutstropfen wurde.

Die Antwort Gottes

In Gethsemane hören wir von keiner Antwort Gottes. Heißt das, dass Sein heftiges Beten nicht erhört worden ist? Hat der Vater auf die Bitte „Nimm diesen Kelch von mir weg?“ nicht geantwortet?

Im Hebräerbrief lesen wir: „Der in den Tagen seines Fleisches, da er sowohl Bitten als Flehen dem, der ihn aus dem Tod zu erretten vermochte, mit starkem Schreien und Tränen dargebracht hat und wegen seiner Frömmigkeit
erhört worden ist“ (Heb 5,7).

Dieser Vers spricht davon, dass Er erhört wurde. Doch die Erhörung bestand nicht darin, dass der Vater dem Sohn das Kreuz und den Tod ersparte. Gott nahm den Kelch also nicht weg, sondern der Herr Jesus hat ihn ganz getrunken (Mk 10,38-39; Joh 18,11). So hatte Christus nicht nur gebetet: „… nimm diesen Kelch von mir weg“, sondern Er hatte auch gesagt: „… doch nicht mein Wille, sondern der deine geschehe“. Er machte damit deutlich, dass Er sich vollkommen dem Willen Seines Vaters unterordnete und Er völlig mit Ihm in Übereinstimmung war (vgl. Joh 4,34; 5,30; 6,38; 8,29).

Und doch – auch wenn Gott nicht den Kelch wegnehmen konnte, gab es eine herrliche Antwort Gottes, eine Erhörung: Gott erweckte Ihn nach Seinem Tod auf und verherrlichte Ihn zu Seiner Rechten. Er konnte nicht zugeben, dass „sein Frommer die Verwesung sehe“
(Ps 16,10). Auch in Psalm 22 hören wir Ihn prophetisch sagen: „Ja, du hast mich erhört von den Hörnern der Büffel“ (V. 22).

Abschließender Gedanke

Wir sehen in Gethsemane den Mann der Schmerzen, der trotz größter Not keinen Augenblick wankte, sondern nur Vollkommenheit, Reinheit und Abhängigkeit offenbarte und selbst in dieser schrecklichen Stunde zeigte, dass es Sein einziges Bestreben war, den Willen des Vaters zu tun. Strahlt angesichts dieser schweren Stunde deswegen nicht besonders Seine Vollkommenheit und Herrlichkeit hervor, die uns zur Anbetung Seiner herrlichen Person führt?

H. Brockhaus

Einordnung: Ermunterung + Ermahnung, Jahrgang 2015, Heft 1