Bibelauslegung

Biblische Orte – oder: „Wo bist du“?

Gottes Wort enthält eine riesige Anzahl von Ortsbezeichnungen: Namen von Städten, Dörfern, Bergen, Tälern, Flüssen und Ländern. Dabei stellt man fest, dass Orte in der Bibel sehr oft eine geistliche Bedeutung haben: Sie symbolisieren bestimmte geistliche Grundsätze. Das wird erstens durch die Personen deutlich, die an diesen Orten bestimmte Erfahrungen gemacht haben, und zweitens durch die Bedeutung der Namen dieser Orte. Viele Orte erhielten ihre Namen gerade aufgrund von Ereignissen, die dort stattgefunden hatten (z. B. Mara und Elim). Dazu fällt auf, dass in der Bibel nicht selten Ortsnamen im Text übersetzt werden: „Geh hin, wasche dich in dem Teich Siloam (was übersetzt wird: Gesandt) …“ (Joh 9,7). Oft liegt in den Ortsnamen ein Schlüssel, der uns hilft, die geistliche Bedeutung einer Begebenheit zu erfassen. Dabei ist natürlich eine gewisse Vorsicht geboten. In manchen Fällen ist die genaue Übersetzung nicht leicht zu bestimmen, und in jedem Fall ist der Textzusammenhang zu beachten.

Beim Studium der Bedeutung von Ortsnamen handelt es sich nicht um ein trockenes Thema. Vielmehr geht es darum, dass wir uns als Gläubige fragen, ob wir uns geistlich gesehen am richtigen Ort aufhalten: Welche Grundsätze kennzeichnen uns in unserem persönlichen und in unserem gemeinschaftlichen Leben als Gläubige?

Im Folgenden nennen wir einige Beispiele, um diesen Grundsatz (dass Orte bzw. Ortsnamen eine geistliche Bedeutung haben) zu veranschaulichen:

  • Vor dem Sündenfall gab Gott dem Menschen den Garten Eden („Wonne, Lieblichkeit“). Als der Mensch gesündigt hatte, versteckte er sich vor Gott, so dass Gott ihm die Frage stellte: „Wo bist du?“ Dann wurde der Mensch aus Eden verbannt.
  • Etwas später lesen wir, dass der erste Mord verübt wurde. In einer Haltung der Rebellion gegen Gott ging er „weg vom Angesicht des HERRN und wohnte dann „im Land Nod“ (1. Mo 4,16). Nod bedeutet „Flucht“ oder „Verbannung“. Sodann baut er eine Stadt (um das Leben – ohne Gott – so angenehm wie nur irgend möglich zu gestalten) und benennt diese Stadt nach dem Namen seines Sohnes. Damit will er sich ein Denkmal setzen, das über seine eigene Generation hinaus bestehen bleibt.
  • Nach der Flut beruft Gott Abraham aus Ur in Chaldäa, dem Sitz des Götzendienstes (Jos 24,2), um ihn in das Land Kanaan zu bringen, das von den Segnungen spricht, die Gott gibt.
  • Leider geht Abraham dann vorübergehend nach Ägypten (ein Bild der Welt, die uns in Knechtschaft führen möchte).
  • Aber durch Gottes Gnade wird er wiederhergestellt und wir finden ihn in Hebron („Verbindung, Gemeinschaft“) wieder. Dort baut er Gott einen Altar. Er hält sich am Ort der Gemeinschaft auf.
  • Sein Neffe Lot wählt dagegen die Ebene des Jordan und vergleicht sie interessanterweise mit Ägypten einerseits und mit dem Garten des HERRN andererseits. Dieser Vergleich (oder sollten wir sagen: diese Verwechslung?) wirft viel Licht auf seinen geistlichen Zustand. Schließlich siedelt er sich in Sodom an, am Ort des moralischen Verderbens, wird gefangen genommen, verliert alles, was er besitzt, und lebt in einer Höhle in Zoar („die Kleine“). Abraham dagegen befreit Lot und wird von dem König von Salem („Frieden“) gestärkt.
  • Die Geschichte der Patriarchen liefert noch viele weitere Beispiele für bedeutungsträchtige Orte. Denken wir nur an Hagars Erfahrungen mit Gott in Beer-Lachai-Roi (dem „Brunnen, wo man Gott schauen kann”). Dann finden wir in Verbindung mit Abraham und der Opferung Isaaks den Ort „Der HERR wird ersehen“ (1. Mo 22,14). In der Geschichte Jakobs sind Bethel („Haus Gottes“, 1. Mo 28 und 35), Gilead („Hügel, Steinhaufe des Zeugnisses“), Machanaaim („doppeltes Heerlager“) und der Jabbok1 markante Stationen.
  • Die Söhne Jakobs gelangen nach Ägypten, dem Ort, der für ihre Nachkommen zum Ort der Sklaverei wurde, von wo sie dann durch Gott befreit und in die Wüste geführt werden: an einen Ort ohne menschliche Hilfsquellen, wo sie lernen sollten, was in ihren Herzen war, aber auch was in Gottes Herzen war. Während dieser Reise folgen weitere bedeutsame Orte (Elim, Mara, Sinai, die Ebenen Moabs, und so weiter).
  • Aber Gott hatte etwas Besseres für sein Volk: das Land mit den Trauben von Eskol („Traube“). Dann überquerten die Israeliten den Jordan (den Fluss des Todes), um in das Land zu kommen, das ein Bild von unseren himmlischen Segnungen ist (Eph 1,3). Leider blieben zweieinhalb Stämme auf der „anderen Seite des Jordan”, im Land Gilead, einem „Ort für Vieh“ (4. Mo 32,1), d. h. für materiellen Wohlstand. Das war eine traurige Entscheidung, die später Konsequenzen hatte (s. Jos 22 und 1. Chr 5,6).
  • Wenn Israels Schlachten erfolgreich sein sollten, mussten sie von Gilgal („Abwälzen“), dem Ort des Gerichts über das Fleisch, ausgehen. Dann kamen sie nach Jericho („Duftort“), und erlebten, dass dieser Sitz der Macht des Feindes und der Ort des Fluches durch Glauben besiegt wird. Aber aus Mangel an Abhängigkeit, durch Selbstvertrauen und durch ungerichtetes Böses (einen Mantel aus Sinear) in ihrer Mitte wird selbst die kleine Stadt Ai („Ruinenhaufen“) ein Ort der Niederlage für sie.
  • Im Land sucht Gott sich dann einen besonderen Ort aus: den „Ort, an dem ich meinen Namen wohnen lasse”, den Ort des Zusammenkommens zu seinem Namen hin (vgl. Mt 18,20 – wo wir das neutestamentliche Gegenstück dazu finden).
  • Aber leider beschließt Jerobeam, dass es „zu viel“ ist, an diesen Ort, nach Jerusalem, zu gehen. Die Alternative, die er vorschlägt, ist in der Tat eine armselige: jeweils ein goldenes Kalb in Bethel und Dan. Bethel, der Ort des Hauses Gottes, bekommt den Spottnamen Beth Aven („Haus der Nichtigkeiten”, d. h. der Götzen, s. Hos 4,15; 10,5.8).
  • Naboth wurde von Ahab ein „besserer Weinberg“ angeboten, aber Naboth durchschaute die Sache: „Das lasse der HERR fern von mir sein, dass ich dir das Erbe meiner Väter geben sollte!“ (1. Kön 21,3).
  • Schließlich wurden die 10 Stämme in die Gefangenschaft nach Assyrien geführt und dann die restlichen zwei Stämme nach Babylon, dem Ort der Verwirrung und des Götzendienstes. 70 Jahre später machte der König Kores ein großartiges Angebot, das gleichzeitig eine Herausforderung war: „Wer irgend unter euch aus seinem Volk ist, mit dem sei sein Gott, und er ziehe hinauf nach Jerusalem, das in Juda ist, und baue das Haus des HERRN, des Gottes Israels … in Jerusalem“. Gottes Haus konnte nur an dem Ort gebaut werden, den Gott dazu ausgesucht hatte. In seiner Gnade bringt Gott eine kleine Minderheit des Volkes („Überrest“) wieder zurück ins Land. Dort richten sie den Altar auf, und zwar „an seiner Stätte“ (Esr 3,3).
  • Viele weitere Beispiele aus dem Alten Testament könnten angeführt werden: Man denke an die vier Orte, die Elia und Elisa gemeinsam besuchten (2. Kön 2). Hier haben wir ein Beispiel für ein Kapitel, das man kaum auslegen kann, ohne die Namen und Bedeutungen der erwähnten Orte zu berücksichtigen.

Mit dem Neuen Testament verhält es sich in dieser Hinsicht ähnlich: Orte haben oft eine Bedeutung.

  • Denken wir nur an den Mann, der „nach Jericho hinab“ ging (Lk 10,30), oder auch an den jüngeren Sohn, der absichtlich in „ein fernes Land“ ging (Lk 15,13), um möglichst weit von seinem Vater entfernt zu sein, dann aber zu ihm zurückkehrte.
  • Dann war da noch Samaria, eine Gegend, die die Juden verachteten und vermieden, in die der Herr aber gehen „musste”, weil es dort eine Person gab, die für seine Gnade empfänglich war (Joh 4,4.9). Oder denken wir an den Gegensatz zwischen Bethanien, wo Er Erfrischung fand (Mt 26,6; Joh 12,1), und dem religiösen Zentrum, dem „Lager“ in Jerusalem, wo Er in den Tagen vor seiner Kreuzigung keine Nacht verbrachte.
  • Das Mahl des Herrn setzte er im Obersaal ein (Lk 22,12.19.20), dann betete Er in Gethsemane („Ölkelter“) (Mt 26,36) und neigte schließlich den Kopf am Kreuz (Joh 19,30). Aber der, der an dem Ort, genannt Schädelstätte (dem Ort, wo sich die ganze Leere und Hohlheit des menschlichen Verstandes erwiesen hat und der erste Mensch zu seinem Ende kommt) starb, ist jetzt aufgefahren zum Vater, um uns eine Stätte zu bereiten im Vaterhaus (Joh 14,2).

Und der Tag wird kommen, wenn Er seinen Fuß auf den Ölberg setzen und sein Reich aufrichten wird (Sach 14,4.9). Dann wird der Sohn Gottes, der Gesalbte, herrschen, und zwar an dem Ort, an dem Er abgelehnt und verworfen worden war. Er wird regieren auf dem Berg Zion (Ps  2,6).

Diese kleine Auswahl biblischer Orte mag genügen, um zu zeigen, dass Orte in der Bibel eine Bedeutung haben und oft ein genaueres Studium wert sind. Viele andere Beispiele könnten noch genannt werden, wie etwa die Berge in der Bibel, die Täler, etc.

Mit diesem Artikel möchten wir dazu anregen, beim Bibelstudium auf Orte und deren Namen zu achten. Es lohnt sich also durchaus, die Bedeutungen eines Ortsnamens nachzuschlagen und mit Hilfe einer Konkordanz oder eines Bibelprogramms einmal die Parallelstellen zu suchen, wo derselbe Ort vorkommt.

Aber stellen wir uns auch die Frage, an welchem Ort wir uns geistlich gesehen aufhalten, persönlich und auch gemeinsam. Diese Frage betrifft sowohl unsere Grundsätze als auch unseren praktischen Zustand. Geben wir uns damit zufrieden, zum Volk Gottes zu gehören, so lange wir irdisch leben können (Gilead) oder liegt uns etwas an dem Land – wo Christus ist und in das wir in Ihm versetzt sind? Halten wir uns fern von Sodom und von einer Rolle in seinen Toren (d. h. in der Verwaltung), und finden wir unsere Freude in der Gemeinschaft mit dem Herrn (Hebron)? Suchen wir eine einfache Lösung durch eine Flucht nach Moab (wie die Familie von Elimelech in Ruth 1)? Wenn wir zurückkehren, werden wir feststellen, dass in Bethlehem („Haus des Brotes”) gerade Erntezeit ist. Lassen wir uns in religiöse Verwirrung ein (Babylon) oder haben wir den Ort gefunden, wo der Herr seinen Namen wohnen lässt, wo wir uns zu seinem Namen hin versammeln und in Geist und Wahrheit anbeten dürfen (Joh 4,21-24)?

Zusammenfassung:

In der Bibel haben Orte sehr oft eine geistliche Bedeutung: Sie symbolisieren bestimmte geistliche Grundsätze. Das wird erstens durch die Personen deutlich, die an diesen Orten bestimmte Erfahrungen gemacht haben, und zweitens durch die Bedeutung der Namen dieser Orte. Das ist nicht etwa ein trockenes Thema. Vielmehr geht es darum, dass wir uns fragen, ob wir uns geistlich gesehen am richtigen Ort aufhalten: Welche Grundsätze kennzeichnen uns in unserem persönlichen und in unserem gemeinschaftlichen Leben als Gläubige?

1 Jabbok wird manchmal mit „ausgießen“ oder „Erschöpfung“ übersetzt, aber manchmal auch von „ringen“ abgeleitet. Jedenfalls wurde der Ort, an dem Jakob mit Gott rang und seine eigene Kraft verlor, zu Pniel („Angesicht Gottes“), dem Ort, wo er Gott sah (1. Mo 32,30).

Michael Hardt

Einordnung: Im Glauben leben, Jahrgang 2017, Heft 4, Seite 3

Stichwörter: biblisch, hinab, Ort