Bibelauslegung

Heiligung

Viele meinen, Heiligung sei ein Prozess, bei dem man die sündige Natur loswerde oder durch Entschlusskraft und besondere Hingabe unterdrücke (Stichwort „sündlose Vollkommenheit“). Wer so denkt, übersieht wichtige Aussagen der Bibel:

  • Es wurden leblose Dinge geheiligt: der Sabbat (1. Mo 2,3), ein Berg (2. Mo 19,23) und Geräte (2. Mo 40,9-11).
  • Es gibt eine Heiligung zum Bösen („weihen“ in Jesaja 66,17 ist dasselbe Wort, das sonst mit „heiligen“ übersetzt wird).
  • Christus – der ja nie eine sündige Natur besessen hat – wurde von Gott geheiligt und heiligte sich selbst (Joh 10,36; 17,19; siehe auch 1. Pet 3,15).

Heiligung kann also nicht bedeuten, sündlos (oder weniger sündig) zu werden. Vielmehr geht es darum, dass Dinge oder Personen zu einem bestimmten Zweck beiseitegesetzt oder „reserviert“ werden. Was Gott für sich heiligt, muss vom Bösen getrennt sein.

Zwei Aspekte der Heiligung

Gottes Wort spricht von zwei verschiedenen Aspekten der Heiligung: eine ein für alle Mal vorgenommene und eine praktische Heiligung. So schreibt Petrus den Empfängern seines ersten Briefs, dass sie die „Heiligung des Geistes“ erfahren hatten (1. Pet 1,2), ermahnt sie aber kurz danach, praktisch heilig zu leben
(1. Pet 1,15). Diese Unterscheidung ist äußerst wichtig. Wer beide Seiten vermischt, kommt zu Fehlschlüssen (insbesondere zu dem Irrtum, unsere Annahme bei Gott beruhe auf unseren Heiligungs-Anstrengungen).

Ein für alle Mal

Im täglichen Sprachgebrauch versteht man unter den Heiligen oft eine Gruppe von Menschen, die auf herausragende Weise für Gott gelebt haben sollen. Gottes Wort spricht ganz anders. Selbst der gerade erst Wiedergeborene gehört schon zu den Heiligen. So auch bei den Korinthern: Sie waren „Geheiligte in Christus Jesus“ und „berufene Heilige“, und Paulus sagt ihnen: „Ihr seid geheiligt“ (1. Kor 1,2; 6,11). Das heißt nicht, dass sie besonders Fortgeschrittene in praktischer Heiligkeit waren, sondern dass sie grundsätzlich – der Stellung nach – heilig waren.

Wenn ein Mensch von neuem geboren wird, wird er von Gott geheiligt: Er gehört Gott und sein Leben hat nun ein völlig anderes Ziel. Das trifft auf jeden Gläubigen zu, und zwar absolut. Diese einmalige Heiligung wird im Neuen Testament unter folgenden Blickwinkeln vorgestellt:

1. Durch ein Opfer geheiligt  (Heb 10,10.14)

Hier haben wir die Grundlage unserer Heiligung. Sie konnte nur durch das „Opfer des Leibes Jesu Christi“ erfolgen. Ohne Golgatha kann es keine Heiligung geben. Die Zeitform in Hebräer 10,10 (Perfekt) unterstreicht, dass es ein einmaliges Ereignis ist – aber mit bleibenden Auswirkungen: „Durch welchen Willen wir geheiligt sind …“ Wenn dann in Vers 14 steht: „die geheiligt werden“, ist das kein Widerspruch. Es geht nicht um einen andauernden Prozess des Geheiligtwerdens. Vielmehr handelt es sich um einen abstrakten Ausdruck für alle, die einmal von Gott geheiligt werden, egal wann.1

Außerdem heißt es in unserem Vers ausdrücklich „mit einem Opfer“ und „auf immerdar“. Deutlicher kann es nicht gesagt werden: Es ist ein einmaliger Stellungswechsel mit ewiger Auswirkung.

2. Heiligung des Geistes (1. Pet 1,2)

Hier finden wir die handelnde Person. Der Vers ist nicht ganz einfach: „durch Heiligung des Geistes, zum Gehorsam …“ Man hätte vielleicht erwartet, erst von Gehorsam und dann von Heiligung zu lesen, aber es ist genau umgekehrt. Warum? Weil es wieder um die ein für alle Mal geschehene Heiligung geht. Der Heilige Geist teilt uns bei der Wiedergeburt eine neue Natur mit. Diese hat ganz andere Wünsche und Fähigkeiten als natürliche Menschen. Dadurch werden wir innerlich für Gott separiert (geheiligt). Das Ziel ist dann der „Gehorsam Jesu Christi“ im praktischen Leben.

3. Durch Glauben an mich (Apg 26,18)

Diese Stelle zeigt uns den Weg, auf dem wir diese Heiligung erlangen: durch Glauben. Paulus hörte von Christus selbst davon, dass die Nationen ein „Erbe“ bekommen sollten unter denen, „die durch den Glauben an mich geheiligt sind“. Die Heiligung ist eine Folge des Glaubens, nicht des Tuns.

4. Geheiligte in Christus Jesus
(1. Kor 1,2)

Hier lernen wir, in wem wir diese Stellung haben: in Christus Jesus. Wie könnte Gott sonst als Sünder geborene Menschen (die auch selbst gesündigt haben) als Heilige oder Geheiligte betrachten? Nur indem Er sie „in Christus“ sieht (vgl. 1. Kor 1,30).

Heiligung im praktischen Leben

Bisher haben wir die absolute Seite der Heiligung (unsere „Stellung“) betont. Dabei soll auf keinen Fall der Eindruck entstehen, die praktische Heiligung in unserem Leben sei unwichtig. Im Gegenteil: Je mehr wir uns bewusst sind, dass Gott uns ein für alle Mal für sich reserviert hat, desto mehr werden wir darauf achten, dem auch praktisch zu entsprechen (d. h. bewusst als „für Gott reserviert“ zu leben).

Denken wir an einen Thronfolger. Von Geburt an ist er dazu bestimmt, einmal die Herrschaft über sein Land anzutreten. Diese Tatsache wird man ihm immer wieder bewusst machen, damit er sich praktisch entsprechend seiner Stellung verhält. Diesen Grundsatz finden wir immer wieder in der Bibel: Wir sind „Kinder des Lichts“, „nicht von der Nacht“, „geliebte Kinder“ und sollen uns entsprechend verhalten.

Wie erfolgt nun diese praktische Heiligung? Folgende Stellen geben Aufschluss darüber.

1. Durch die Wahrheit (Joh 17,17)

Der Herr Jesus bittet den Vater, die Jünger zu heiligen, die in einer gefährlichen Welt zurückbleiben würden. Hier geht es also um die praktische Heiligung.

Dieser Vers zeigt, wie der Prozess der praktischen Heiligung erfolgt. Der Schlüssel liegt in dem Ausdruck „dein Wort“. Der Herr wendet sich an den Vater, es ist also das Wort des Vaters. Es geht um die Wahrheit, aber im vollen Licht der Offenbarung des Vaters. Wer die Bibel so liest, wird überall Christus finden: in Opfern, Vorbildern, im prophetischen Wort, etc. Dadurch wird die Zuneigung zu Ihm gestärkt, und der Wunsch, Ihm zu gefallen und für Ihn und mit Ihm zu leben. Dadurch wird man innerlich von der Erde und der Welt gelöst und so praktisch geheiligt.

2. Durch Christus im Himmel (Joh 17,19)

Der Herr sagt: „Ich heilige mich selbst für sie, damit auch sie Geheiligte seien durch Wahrheit.“ Er würde sich durch das Verlassen der Welt heiligen, d. h. absondern, und als verherrlichter Mensch beim Vater das Thema der Jünger sein, der Gegenstand ihrer Herzen. Nur so kann die Heiligung „durch die Wahrheit“ erfolgen. Wieder sehen wir, es geht um Christus, um die Beschäftigung mit und die Zuneigung zu Ihm, und zwar mit Ihm als mit dem, der das Werk vollbracht hat, der durch den Tod und zum Vater gegangen ist. Seine Abwesenheit auf der Erde steht der Heiligung der Jünger nicht im Weg. Im Gegenteil: Es war „für sie“, dass Er im Himmel „geheiligt“ oder ‚beiseitegesetzt‘ sein würde.

3. Durch die Waschung (Eph 5,26)

Epheser 5 sagt, dass Christus die Versammlung liebt. In der Vergangenheit hat Er sich für sie hingegeben, in der Zukunft wird Er sie sich selbst verherrlicht darstellen, und in der Gegenwart heiligt Er sie praktisch. Dazu benutzt Er wieder das Wort, allerdings hier mit einem etwas anderen Schwerpunkt: Hier geht es um seine reinigende Wirkung. Es zeigt uns Dinge, die Gott nicht entsprechen, seien es Gedanken, Wünsche oder Taten. Das bringt uns dahin, diese vor Gott zu bekennen und zu richten.

4. Durch Liebe (1. Thes 3,12)

Diese Stelle zeigt uns einen weiteren interessanten Zusammenhang: Praktische Heiligung ist auch eine Sache der Liebe: „Euch aber mache der Herr völlig und überströmend in der Liebe zueinander und zu allen … um eure Herzen zu befestigen, dass ihr untadelig seid in Heiligkeit“. Je mehr die Zuneigungen auf Christus (s. o.) und auf die Seinen gerichtet sind, desto mehr werden wir innerlich von der Welt gelöst und so geheiligt.

5. Durch den Gott des Friedens (1. Thes 5,23)

Die praktische Heiligung wird von Gott selbst bewirkt. Wir müssen dazu bereit sein, aber selbst dann ist es sein Werk. Die Thessalonicher waren von vielen Gefahren umgeben, besonders von Verfolgung und Unmoral. Aber Paulus hatte den Wunsch, dass der Gott des Friedens sie in praktischer Heiligkeit bewahren würde, und zwar im Blick auf den ganzen Menschen – Geist, Seele und Leib – und bis an das Ende ihres Weges.

6. Sich wegreinigen (2. Tim 2,21)

Hier begegnet uns eine wichtige Voraussetzung für praktische Heiligkeit: „Wenn nun jemand sich von diesen reinigt, so wird er ein Gefäß zur Ehre sein, geheiligt, nützlich dem Hausherrn, zu jedem guten Werk bereitet.“ In dem großen Haus der Christenheit gibt es leider Menschen, die sich nicht zu Gottes Ehre verhalten. Wer in dieser Ausrichtung lebt, wird zu einem Gefäß zur Unehre. Um selbst ein Gefäß zur Ehre zu sein, muss man nicht nur persönlich treu sein, sondern auch die Gemeinschaft mit Gefäßen zur Unehre meiden. Das ist nicht leicht – manchmal fast eine Gratwanderung – aber nur so kann man „geheiligt“ sein. Und das Ergebnis ist großartig: „ein Gefäß zur Ehre, geheiligt, nützlich dem Hausherrn, zu jedem guten Werk bereitet.“

Progressive Heiligung?

Manche Ausleger sprechen von „progressiver Heiligung“, andere warnen vor diesem Ausdruck. Es kommt eben darauf an, was man damit meint. Einerseits sollen wir geistlich wachsen, und das wird zu Fortschritten in Sachen praktischer Heiligkeit führen. Aber praktische Heiligung ist nicht progressiv in dem Sinn, dass unser Fleisch weniger gefährlich würde oder wir es loswerden könnten.

Äußerliche Heiligung

Die Bibel benutzt Heiligung noch in einem äußerlichen Sinn (1. Kor 7,14; Heb 9,13), ohne Folgen für die Ewigkeit. So war auch ein Mensch, der aus dem Judentum stammte, sich aber dann von Christus abwandte, äußerlich geheiligt (Heb 10,29). Hier steht ‚geheiligt‘ im Aorist (nicht Perfekt), d. h. es wird nicht davon ausgegangen, dass diese Heiligung irgendeine bleibende Wirkung hat (s. zu Heb 10,10.14 oben).

Zusammenfassung:

Heiligung bedeutet nicht etwa sündlos zu werden, sondern für einen bestimmten Zweck reserviert zu sein. Jeder Gläubige ist ein für alle Mal geheiligt, und zwar durch das Opfer des Herrn Jesus. Der Geist Gottes bringt diese Heiligung zustande, durch Glauben wird sie uns zugänglich, und in Christus dürfen wir in dieser Stellung sein. Diese grundsätzliche Heiligung ist vollkommen und absolut. Wir können ihr nichts hinzufügen, aber wir sollen ihr entsprechend leben. Um uns dabei zu helfen, haben wir das Wort Gottes, das uns reinigt und mit Christus beschäftigt, und dazu den verherrlichten Christus selbst als das Thema unserer Herzen.

1 Im Grundtext steht hier das Partizip Präsens („geheiligt werdend“). Diese Zeitform kann zwar eine gerade geschehende Handlung beschreiben, aber sie kann auch etwas Charakteristisches ausdrücken (genau wie „arbeitende Leute“ bedeuten kann, dass sie jetzt, in diesem Augenblick, arbeiten oder aber dass sie es generell tun). Dieselbe Konstruktion finden wir noch in folgenden Stellen: Apg 20,32; 26,18; Heb 2,11. Auch dort geht es um die einmalige Heiligung, nicht um einen fortschreitenden Prozess.

Michael Hardt

Einordnung: Im Glauben leben, Jahrgang 2017, Heft 9, Seite 24

Bibelstellen: Hebräer 10,10.14; 1. Petrus 1,2; Apostelgeschichte 26,18; 1. Korinther 1,2

Stichwörter: geheiligt, Heiligung