Bibelauslegung

Die Gnade triumphiert über das Gesetz

2. Könige 4,1-7

Die Witwe eines treuen Dieners Gottes ist verarmt und dadurch in große Schwierigkeiten geraten. Nun ist sie hoch verschuldet und ihr Gläubiger hat sie ein letztes Mal aufgefordert, ihre Schulden zu begleichen. Andernfalls will er ihre beiden Söhne zu Knechten nehmen. Was soll sie tun? Sie weiß nicht mehr ein noch aus. In ihrer Not schreit sie zum Propheten Elisa.

Ist ihr verstorbener Ehemann nicht ein gottesfürchtiger Mann gewesen? Doch das würde den Schuldherrn wohl kaum beeindrucken. Würde er deswegen seine Forderungen abschwächen, die ihm gesetzlich zustehen? Auch seinen Anspruch auf ihre Söhne muss sie anerkennen, denn dessen Rechtsgültigkeit ist unbestreitbar. Ein entsprechendes Gerichtsurteil wäre unanfechtbar (3. Mo 25,39-41). Vielleicht wäre er ja barmherzig – das liegt bei ihm. Trotzdem kann niemand sein Recht auf Begleichung der Schuld infrage stellen. Wenn er das Gesetz anwendet, gibt es kein Erbarmen. Sie spürt: Ihre Lage ist aussichtslos! Und deshalb wendet sie sich in ihrer Verzweiflung an den Propheten. Dadurch zeigt sie, dass ihr jede Hoffnung entschwunden ist, ihre Probleme alleine lösen zu können.

Ist das nicht eine treffliche Veranschaulichung der Lage, in der sich der zukünftige Überrest der Juden befinden wird? Sie werden unter dem Druck der Forderungen des Gesetzes stehen und sich bewusst werden, dass ausgerechnet diese Forderungen zu ihrem Elend beitragen. Sie werden erkennen müssen, dass sie einerseits keine Kraft haben, das Gesetz zu erfüllen, und andererseits machtlos sind, sich seinem gerechten Strafurteil zu entziehen. In dieser aussichtlosen Lage befinden sich die Juden, weil sie, im Gegensatz zu uns, unter dem Fluch des Gesetzes stehen (vgl. Gal 3,13.24; Eph 2,15; Kol 2,14). Aber obwohl wir von Gott nie unter Gesetz gestellt wurden, müssen wir doch die hilflose, armselige Stellung unter dem Gesetz begreifen, wenn wir seine Gnade in der rechten Weise wertschätzen wollen. Dabei kann uns das Beispiel dieser armen Witwe helfen, auch wenn wir als Kinder Adams nicht in einer vergleichbaren Situation waren. Was wir aber sehr wohl auf uns anwenden können, ist das Wirken der Gnade, die wir im Blick auf diese Frau verfolgen können.

Völlige Armut

Ihr Hilferuf findet bei Elisa Gehör. Doch bevor er ihr irgendwelche Anweisungen gibt, möchte er, dass sie ihm ihre völlige Armut gesteht. Auf die Frage nämlich, was sie im Haus hat, kann sie nur auf eine einzige Sache verweisen: einen Krug voll Öl, wie man ihn für Salbungen verwendete. So kurz ist die Liste ihrer Besitztümer – ein Krug voll Öl! Wer seine irdischen Güter so mühelos zusammenfassen kann, mag verständlicherweise um Hilfe rufen! Und wäre dieser Krug voll Öl von besonderem Wert gewesen – hätte sie ihn dann nicht verkauft? Gleichwohl maß sie ihm doch einen gewissen Wert bei, denn sie hatte ihn andererseits nicht einfach entsorgt. Aber auch nach Einschätzung des Schuldherrn scheint der Krug ein wertloser Gegenstand gewesen zu sein. Sonst hätte er ihn sicher beschlagnahmt.

Doch nun soll sie lernen – und mit ihr auch wir -, dass gerade durch eine Sache, die in den Augen der Welt wenig Bedeutung hat, Errettung geschehen kann. Welchen Nutzen könnte dieser Krug voll Öl denn nun für sie haben? Das mag ihr Gedanke gewesen sein.

Ähnlich dachten auch die Juden über den Tod des Herrn am Kreuz. Er hatte für sie nur geringen, wenn nicht gar keinen Wert. Sie verlangten Zeichen, doch Paulus verkündigte einen gekreuzigten Christus – für sie ein Stein des Anstoßes. Aber auch Nichtjuden hatten keinen Blick für den Wert des Kreuzes. Sie begehrten Weisheit, Weisheit dieser Welt, und für sie war das Kreuz nur Torheit. Doch für die, die gerettet sind, ob Juden oder Griechen, ist das Kreuz Christi Gottes Kraft und Gottes Weisheit (vgl. 1. Kor 1,18.25).

Leere Gefäße

Da nun sowohl das Urteil der armen Witwe als auch das des Schuldherrn über den Wert des Gegenstands festgestellt wurde, ist der Weg frei für Gottes Wirken. Der Prophet weist die mittellose Frau an, sich von draußen leere Gefäße zu borgen, von all ihren Nachbarn, und zwar nicht wenige. Dann soll sie hinter sich und ihren Söhnen die Tür schließen und die ausgeliehenen Gefäße der Reihe nach mit dem vorhandenen Öl befüllen. Was voll ist, soll sie beiseitestellen (s. 2. Kön 4,36).

Gehorsam den Anweisungen des Mannes Gottes macht sich die Witwe mit ihren Söhnen ans Werk. Sie diskutiert nicht über den Sinn dieser Maßnahme, sondern führt einfach mit großer Sorgfalt das aus, was ihr der Prophet geboten hat. Sie hätte denken können: Wer hat jemals von Gefäßen gehört, die gefüllt wurden, ohne dass die dafür notwendige Flüssigkeit vorhanden war? Doch der Glaube diskutiert nicht, er verlässt sich auf Gott und ist seinem Wort gehorsam.

Hinter verschlossenen Türen gehen die Drei an die Arbeit. Gott handelt oftmals im Verborgenen an einer Seele, denn sein Wirken muss persönlich und im Herzen geschehen; erst im Nachhinein mögen sich dann die Auswirkungen in der Öffentlichkeit zeigen. So auch hier. In der Ruhe der Abgeschiedenheit stellen sie fest, dass sich das Wort des Propheten als wahr erweist. Alle Gefäße sind mit Öl gefüllt!

Elisa hat vorher nicht gesagt, wie viel Öl fließen würde, doch darf sie feststellen, dass die Realität ihre kühnsten Erwartungen noch übertrifft. Dieser kleine Krug, der bis dahin wenig Bedeutung in ihren Augen gehabt hat, liefert Öl für alle Gefäße. Kein einziges bleibt leer, auch ist keines nur halb gefüllt. Sie gießt ein, während ihre Söhne immer wieder ein neues Gefäß anreichen. Sie hält erst inne, als alle Gefäße mit Öl befüllt sind. Sie hat zählen können, wie viele Gefäße sie geborgt hat. Bald würde sie auch den Wert dessen erfahren, was sie bekommen hat. Doch eins würde ihr immer verborgen bleiben: wie viel Öl aus ihrem Krug hätte herausströmen können. Sie würde nie die Tiefe der Reichtümer Gottes ergründen noch die Quelle seines für sie bereitgehaltenen Segens.

Jetzt, da alle Gefäße mit Öl befüllt sind, handelt sie genau richtig: Sie berichtet dem Propheten, dem sie vorher ihren Kummer anvertraut hat, nun auch von dem reichen Segen, der ihr zuteilgeworden ist. Sollten sich nicht auch alle, die Gnade empfangen haben, sich dem erkenntlich zeigen, der sie so reich beschenkt hat?

Frei von Schuld

Als Elisa hört, was sie empfangen hat, sagt er ihr, was sie damit tun soll: „Geh hin, verkaufe das Öl und bezahle deine Schuld; du aber und deine Söhne, lebt vom Übrigen“ (2. Kön 4,7). Die gesetzliche Forderung muss erfüllt werden. Auch das wird Israel eines Tages erkennen. Die Witwe könnte die Forderung niemals erfüllen. Sie hat deren ganze Last einschließlich der zu erwartenden schrecklichen Folgen tief verspürt. Nun wird sie davon befreit, aber nicht dadurch, dass sie sie ignoriert, sondern indem sie ihre Schuld voll und ganz tilgt. „Bezahle deine Schuld!“, sagt Elisa und anerkennt damit den Rechtsanspruch des Gläubigers, denn alles andere würde gegen Gottes Wort verstoßen. Das Ergebnis: Die Witwe ist entlastet, die Forderung erfüllt, das Wort Gottes wird beachtet, der Schuldherr ist zufrieden – und die Söhne sind frei!

In Zukunft versorgt

Aber – ist das alles? Ja, das ist alles, was sich die Witwe erhofft hat. Aber reicht das aus? Die klare Antwort lautet: Nein! Denn wovon soll sie jetzt leben? Dass die Witwe die Forderung des Schuldherrn erfüllt hat, kann sie nicht davor absichern, bald wieder in ähnliche Schwierigkeiten zu geraten. Ihr fehlen weiterhin sämtliche Möglichkeiten, in Zukunft schuldenfrei zu bleiben. Vorher ist sie nicht imstande gewesen, sich vor der Not zu schützen; daran hat auch die Tilgung der Schuld nichts geändert. So müssen auch wir lernen: Die Tilgung unserer Schuld gibt uns noch keine Kraft für ein verändertes Leben.

Aber Gott weiß, was die Witwe zusätzlich benötigt. Er misst nicht nur den Umfang ihres Mangels aus, sondern rechnet auch ihre zukünftigen Bedürfnisse mit ein. So fordert der Prophet sie auf: „Du aber und deine Söhne, lebt vom Übrigen.“ Das Öl, wodurch die Geldschuld getilgt worden ist, ist auch die Grundlage ihrer weiteren Versorgung und der ihrer Kinder.

Hier endet diese Geschichte. Alles kam von Gott – denn von Ihm kommt Gnade. Die Witwe hat ihre Lage erkannt und eingesehen, dass sie nichts kann. Dadurch lernt sie, sich beschenken zu lassen. Die gesetzliche Forderung ist erfüllt, und sie lebt nun von der Fürsorge der Gnade Gottes. Wir verstehen die Belehrung für uns: Er, durch den allein die Schuld getilgt werden kann, ist derjenige, der uns auch stets mit allem versorgt.

 

Clarence E. Stuart

Einordnung: Im Glauben leben, Jahrgang 2019, Heft 12, Seite 8

Bibelstellen: 2. Könige 4,1-7; 3. Mose 25,39-41; 1. Korinther 1,18.25;

Stichwörter: Freiheit, Gesetz, Gnade, leere Gefäße