Fragen und Antworten

Was bedeutet: „Ich war geboren“?

Frage: Ich stehe gerade in einer Diskussion mit jemandem, der die ewige Gottheit des Herrn Jesus leugnet. Er gibt inzwischen zu, dass der Herr „göttlich“ ist, aber er argumentiert mit Sprüche 8,24, wo es heißt: „Ich war geboren, als die Tiefen noch nicht waren …“ Das Wort geboren scheint auf einen Anfang, ein Entstehen, hinzudeuten – das es ja bei dem Herrn als dem ewigen Gott nicht gab. Aber wie kann man das erklären, was die Schrift hier meint?

Antwort: Diese Frage berührt einen Bibelvers, der sicher nicht einfach ist. Und sie berührt die Größe und Herrlichkeit unseres Herrn. Die folgenden Hinweise sollen dazu eine Hilfestellung anhand der Schrift selbst geben:

  1. Man muss unterscheiden zwischen der Gottheit des Herrn (die per Definition ewig ist) und der Wahrheit der ewigen Sohnschaft (d. h. der immer schon bestehenden Beziehung zwischen dem Vater und dem Sohn). Diese Unterscheidung ist wichtig, besonders weil es solche gibt, die wohl an der Gottheit Christi festhalten (und daher auch an seiner ewigen Präexistenz), die aber die ewige Sohnschaft leugnen, also die ewige Beziehung des Sohnes Gottes als Sohn zum Vater. Sie sagen, Er sei erst bei seiner Menschwerdung Sohn geworden – ein absolut falscher Gedanke.
  2. In beiden Fällen handelt es sich um Irrlehre und es ist äußerste Vorsicht geboten. Wenn ein Lehrer (jemand, der „ausgegangen“ ist, um zu lehren – s. 2. Joh 7.10) die Gottheit und/oder die ewige Sohnschaft leugnet, dann müssen wir uns nach 2. Johannes 9-11 verhalten, also ihn nicht grüßen, nicht ins Haus aufnehmen und folglich nicht mit ihm diskutieren. Wenn jemand ein Verführter ist, liegen die Dinge etwas anders. Aber auch hier ist große Vorsicht geboten.
  3. Dein Korrespondent scheint (auch) die Gottheit Christi (und sogar eine ewige Präexistenz!) zu leugnen.
  4. Er gibt zu, der Herr sei „göttlich“. Das ist ein sehr schwacher Ausdruck – je nachdem, wie er verwendet wird. Große Vorzüge eines Geschöpfes werden ja manchmal etwas leichtfertig als göttlich bezeichnet (wobei dem Sprecher klar ist, dass es sich um ein Geschöpf handelt und nicht um Gott). Es ist also zu befürchten, dass dein Korrespondent – trotz der Aussage, er sei „göttlich“ – die Gottheit Christi weiterhin leugnet (jedenfalls beweisen die von dir zitierten Worte nicht das Gegenteil).
  5. Es gibt viele Bibelstellen, die auf die Gottheit Christi hinweisen. Man denke nur an die folgenden:
    • Matthäus 28,19: Der Sohn wird in einem Atemzug mit dem Vater und dem Geist genannt.
    • Johannes 1,1: „Und das Wort war Gott“ – ein Vergleich mit Vers 14 zeigt, dass es sich nur um Christus, den Sohn Gottes, handeln kann.
    • Johannes 5,18: Der Herr nannte Gott seinen Vater und die Juden verstanden sehr gut, dass das nicht weniger bedeutete, als dass Er Gott war.
    • Johannes 20,28: Thomas sagt: „Mein Herr und mein Gott!“ und der Herr bestätigt die Aussage. Sie war aus Glauben getroffen worden (V. 29).
    • Titus 2,13: „… indem wir erwarten die glückselige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit unseres großen Gottes und Heilandes Jesus Christus.“ Hier steht im griechischen Text nur ein Artikel vor „Gottes und Heilandes“. Dadurch wird ausgedrückt, dass sich beides auf dieselbe Person bezieht.
    • 1. Johannes 5,20: Jesus Christus, ist „der wahrhaftige Gott“, ja, „Gott, gepriesen in Ewigkeit“ (Röm 9,5).

Hinzu kommen die Attribute des Herrn, die auf seine Gottheit hinweisen:

  • Seine ewige Präexistenz wird durch viele Bibelstellen deutlich bezeugt (Joh 1,1; Heb 1,2; s. auch 1. Joh 1,2).
  • Er ist unveränderlich: „Du aber bleibst“ (Heb 1,11).
  • Er ist allgegenwärtig (Joh 3,13).

Und seine Taten beweisen seine Gottheit: Er hat die Welt erschaffen, Er wird die Toten auferwecken, Er wird die Lebendigen und die Toten richten etc.

6. Nun zu Sprüche 8:

a) In Sprüche 8,24 steht „ich war geboren“. Dabei ist zu bedenken:

  • Das Buch der Sprüche ist ein poetisches Buch – die Lehre über die Person Christi wird nicht im Alten Testament entfaltet, sondern sie wird erst im Neuen Testament offenbart.
  • „Ich“ meint in erster Linie die Weisheit. Natürlich ist der Herr die personifizierte Weisheit. Aber man muss doch beachten, dass es zunächst einmal um die Weisheit geht und nicht um eine Darlegung der „Lehre des Christus“ – wie wir sie im Neuen Testament finden.
  • Es gibt im Hebräischen (wenigstens) zwei verschiedene Ausdrücke für „geboren werden“. Der eine, „jalad“, ist der gewöhnliche Ausdruck für die Geburt (und das Zeugen) von Nachkommen bei Menschen oder Tieren. Siehe dazu Sprüche 23,24.25, wo „jalad“ in diesen beiden Bedeutungen vorkommt. Dieses Wort – das also von dem Zeitpunkt einer Geburt (bzw. Zeugung) spricht – kommt in Sprüche 8 gar nicht vor.
  • Stattdessen wird in Sprüche 8 ein anderer Ausdruck gebraucht (hebr. chul). Dieser kann zwar „geboren“ bedeuten (Ps 51,7). Aber dieses Verb ist viel allgemeiner und wird daher auch verschieden übersetzt¹, unter anderem mit warten (1. Mo 8,10; Ri 3,25; Klgl 3,26), harren (Hiob 35,14; Ps 37,7), zittern (Jes 23,5) oder von Dauer sein (Hiob 20,21).

b) Sprüche 8 erwähnt einen Anfang:

  • In Vers 22 steht zwar „im Anfang“ (oder „als Anfang“, s. die Fußnote in der Elberfelder Übersetzung), erklärt dann aber diesen Ausdruck mit „von jeher“.
  • Der Ausdruck „als die Tiefen noch nicht waren“ bedeutet so viel wie „immer schon“, noch bevor die Welt erschaffen wurde.
  • Noch deutlicher wird es in Vers 23, der sogar ausdrücklich sagt: „von Ewigkeit her“. Es geht also nicht um einen Zeitpunkt, sondern um die Ewigkeit.
  • Vers 23 sagt weiter „von Anbeginn“ – das ist das hebräische Wort rosch (Haupt), nicht reschith (Anfang). Wieder wird präzisiert: „vor den Uranfängen der Erde“ (nicht „von“).
  • Auch in Vers 24 wird klar, dass es um die Zeit „vor“ der Schöpfung geht (als die Tiefen und Quellen noch nicht da waren). So auch in Vers 25. Wie weit auch immer man zurückgeht, selbst vor der Schöpfung, war diese Person, Christus, der Sohn Gottes (bzw. die Weisheit Gottes) bereits da.
  • Die Verse 26-29 sprechen vom Zeitpunkt der Schöpfung, aber dann heißt es einfach: „da war ich Werkmeister bei ihm“. Es ist also nicht die Rede von Geburt oder Entstehung zu diesem Zeitpunkt, sondern davon, dass Christus zur Zeit der Schöpfung bereits bei Gott war, der Gegenstand seiner Wonne.

c) Übrigens ist die ganze Argumentation (aus Sprüche 8 einen Beginn in Bezug auf Christus ableiten zu wollen) auch deshalb absurd, weil sie schließlich bedeuten würde, dass die Weisheit Gottes einen Anfang hatte und vor dem Zeitpunkt der Schöpfung nicht existiert hätte – ein unmöglicher Gedanke für jeden, der an Gott glaubt, der ewig und unveränderlich ist (Jak 1,17; Jes 41,4; 43,10.13). Dann wäre das, was Ihn als Gott kennzeichnet, erst irgendwann sein Besitz geworden.

d) Leider übersetzen die „Zeugen Jehovas“ Vers 22 falsch: „brachte mich hervor“ (Neue-Welt-Übersetzung). Ebenso verkehrt und irreführend ist: „hat mich erschaffen“ (Einheitsübersetzung).

e) Als Fazit ist festzuhalten, dass es in Sprüche 8 darum geht, dass Christus, die personifizierte Weisheit, sowohl bei als auch vor der Schöpfung – schon immer – bei Gott war.

7. Wir dürfen niemals erlauben, dass ein schwieriger Vers (und dann noch aus einem poetischen, alttestamentlichen Buch) benutzt wird, um die Lehre des Neuen Testaments in Frage zu stellen. Wenn etwas nicht in das „Bild gesunder Worte“ passt, ist es nicht die Stimme des guten Hirten und daher abzulehnen (2. Tim 1,13).

8. Die Bibel bezeugt immer wieder die Gottheit des Herrn. Siehe dazu Johannes 1,1; 8,58; 20,28; Römer 9,5; Kolosser 1,16; Hebräer 1,2.6; 1. Johannes 5,20; etc. Er ist der Schöpfer, Er stillte den Sturm, Er konnte sein Leben lassen und wiedernehmen, Er ist Wurzel und Geschlecht Davids, und, und, und … Die Gottheit Christi zieht sich wie ein goldener Faden durch die ganze Bibel. Es ist in der Tat so, wie es bildlich durch die goldenen Fäden angedeutet wird, die mit dem Stoff des Ephods verwoben wurden (2. Mo 39,3).

„Das Wort war Gott“ (Joh 1,1).

„… deren die Väter sind und aus denen, dem Fleisch nach, der Christus ist, der über allem ist, Gott, gepriesen in Ewigkeit. Amen“ (Röm 9,5).

„In Bezug auf den Sohn aber: „Dein Thron, o Gott, ist von Ewigkeit zu Ewigkeit …“ (Heb 1,8).

„Und wir sind in dem Wahrhaftigen, in seinem Sohn Jesus Christus. Dieser ist der wahrhaftige Gott und das ewige Leben“ (1. Joh 5,20).

Ich war geboren, als die Tiefen noch nicht waren, als noch keine Quellen waren, reich an Wasser. Bevor die Berge eingesenkt wurden, vor den Hügeln war ich geboren.
Sprüche 8,24.25


FN: Es gibt zwar in der Bibel keine Beispiele für diese weiteren Bedeutungen, in denen das Verb in der sog. „Polal-Form“ steht (wie in Spr 8,24), dennoch ist auffällig, dass in Sprüche 8 nicht das Wort jalad benutzt wird.

Michael Hardt

Einordnung: Im Glauben leben, Jahrgang 2022, Heft 11, Seite 7

Bibelstellen: Sprüche 8,24; 2. Johannes 9-11; Johannes 20,28; Titus 2,13; Römer 9,5; u. a.;

Stichwörter: Beziehung, geboren, Gottheit, Lehre, Sohnschaft