Versammlung

Schafe, die keinen Hirten haben

Gott wollte immer, dass sein Volk versorgt ist. Es sollte niemals sein „wie Schafe, die keinen Hirten haben“ (4. Mo 27,17). Das war zwar an dieser Stelle der Wunsch Moses‘ – aber Gott antwortete auf diese Bitte und bestellte Josua zu Moses‘ Nachfolger, der das Volk führen sollte und der auch hierin ein Bild von dem Herrn Jesus ist.

Die Aufgaben eines Hirten

Die Aufgaben eines Hirten zeigt uns unter anderem Psalm 23. Sicher ließe sich über diesen Psalm ein eigenes Buch füllen, daher sollen hier nur einige der dort beschriebenen Aufgaben des Hirten aufgezählt werden:

  • Er sorgt für Nahrung, aber auch für die notwendige Ruhe zur Nahrungsaufnahme (V. 2-3).
  • Er führt auf dem richtigen Weg (V. 3 „Pfade der Gerechtigkeit“, V. 4 „Stecken und Stab“).
  • Er leistet Hilfe und Trost in schwierigen Situationen (V. 4).
  • Er schützt vor Feinden und gibt Segen im Angesicht der Feinde (V. 5).

Nachdem Saul als König nach dem Herzen der Menschen versagt hatte, wählte sich Gott einen König nach seinem Herzen: David. Interessanterweise wird von diesem Mann besonders betont, dass er ein Kleinvieh- bzw. Schafhirte war (1. Sam 16,11; 17,28). Diese Aufgabe hatte er verantwortungsvoll wahrgenommen (1. Sam 17,34.35). Davids Schafe waren nicht wie solche, die keinen Hirten hatten; er hat sie geweidet und vor Gefahren beschützt. Genauso ist er später als König mit dem Volk Israel umgegangen: „Er weidete sie nach der Lauterkeit seines Herzens, und mit der Geschicklichkeit seiner Hände leitete er sie“ (Ps 78,72).

Hirten in Israel

Leider ging es mit Israel, besonders mit dem Nordreich, später recht schnell bergab, so dass der Prophet Micha über den König Ahab das Urteil fällen musste, dass Israel unter seiner Herrschaft war wie Schafe, die keinen Hirten haben (1. Kön 22,17; 2. Chr 18,16). Ein niederschmetterndes Urteil für den König Ahab, der offensichtlich wohl um die tiefere Bedeutung dieses Ausdrucks wusste¹ und daher so zornig über Micha wurde.

Hesekiel, der während der Zeit der babylonischen Gefangenschaft weissagte, kam zu einer ähnlichen Schlussfolgerung (Hes 34,5-8), wobei Hesekiel nicht gezielt zu einem König sprach, sondern generell die komplette verantwortliche Führungsriege des Volkes verurteilte. Seine Aussage ging nicht speziell an eine Person, sondern allgemein an die „Hirten Israels“ (Kap. 34,1). Detailliert wird aufgezählt, dass die Hirten keine ihrer Aufgaben erledigt hatten. Es gab:

  • keine Weide (= Nahrung und Ruhe für die Nahrungsaufnahme) (V. 3),
  • keine Führung auf dem richtigen Weg (V. 4 in der Mitte und V. 6),
  • keine Hilfe (V. 4a),
  • kein Schutz vor Feinden (V. 5b.8).

Außerdem wird diese Feststellung mit dem Entschluss Gottes verbunden, die versagenden menschlichen Hirten abzusetzen (V. 10) und sich selbst um sein Volk zu kümmern (V. 11-16). Dies sollte in der Person des Herrn Jesus geschehen, den Hesekiel prophetisch als „meinen Knecht David“ ankündigte (Hes 34,23; 37,24).

Der gute Hirte

Als der Herr Jesus auf die Erde kam, um selbst nach seinem Volk zu sehen, musste Er ebenfalls feststellen, dass das Volk Israel wie Schafe waren, die keinen Hirten hatten (Mt 9,36). Doch nun war Er selbst als der gute Hirte gekommen, um nach seinen Schafen zu sehen (Joh 10).

Wir sehen, dass Gott nicht wollte, dass sein irdisches Volk führungs- und schutzlos war. Er gab die Verantwortung in die Hände von Menschen, für das Volk zu sorgen und es (auch geistlich) zu führen. Die Führer haben aber völlig versagt, so dass Gott mehrfach feststellen musste, dass sein Volk wie Schafe war, die keinen Hirten hatten. Und als Er seinen Sohn als den wahren Hirten auf die Erde sandte, wurde dieser von seinem Volk verworfen. Der gute Hirte starb und das Volk war wie Schafe ohne Hirten.

Aber wie sind nun Matthäus 26,31 und Johannes 10,11;11,52 zu verstehen? Ist dies nicht ein Widerspruch, dass einerseits davon die Rede ist, dass die Herde sich nach dem Tod des Hirten zerstreuen würde, und dass andererseits der Herr starb, um die zerstreuten Kinder Gottes in eins zu versammeln?

Für die Masse des Volkes, insbesondere die Schriftgelehrten und Pharisäer, die den Herrn ablehnten, gilt die in Matthäus 26,31 vom Herrn selbst angeführte Stelle aus Sacharja 13,7. Er, der Hirte Israels selbst, würde von seinem Volk abgelehnt und von Gott geschlagen werden, und das würde zu einer Zerstreuung der Herde führen. Dies trat spätestens bei der Zerstörung des Tempels 70 n. Chr. und der danach folgenden Vertreibung der meisten Juden aus dem Land ein.

Gleichzeitig gilt aber auch das, was in Johannes 10 und 11 gesagt wird. Der Herr Jesus, der gute Hirte, musste und wollte sterben, um seine eigenen Schafe aus dem Schafhof herauszuführen und zusammen mit den „anderen Schafen, die nicht aus diesem Hof sind“, eine neue Herde zu bilden (Joh 10,3.4.16). Diese „Seinen“ sind nicht diejenigen, die Ihn verworfen haben, sondern diejenigen, die Ihn angenommen haben (Joh 1,11-13). Diese werden jetzt die „Seinen“ genannt (Joh 13,1), und für diese ist Er als der gute Hirte gestorben, um sie zu einer neuen Herde in eins zu versammeln.

Hirtendienst heute

Nun gehören sicher die wenigsten von uns zu dem irdischen Volk Gottes. Haben die Aussagen der Bibel zu den Hirten für uns nun keine Bedeutung mehr? Doch, denn auch dem himmlischen Volk Gottes, dem Leib Christi, sind Hirten gegeben (Eph 4,11.12). Neben diesem überörtlichen Hirtendienst gibt es auch noch lokale Aufseher², deren Aufgabenbereich sich auf die Herde Gottes am Ort beschränkt (Apg 20,28, s. auch 1. Tim 3,1 ff.).

Vergleichen wir nun die Kirchengeschichte mit der Geschichte Israels, so sehen wir, dass das Versagen der menschlichen Hirten in beiden Fällen offensichtlich ist. Die Zeit Ahabs, in der Micha sagte, dass Israel wie Schafe sei, die keinen Hirten haben, findet in der Zeit des Mittelalters ihre Parallele.³ Insbesondere in dieser Zeit sehen wir auch die Christenheit in einem Zustand, dass sie wie Schafe waren, die keinen Hirten haben. Wie schon im Volk Israel hat sich seitdem allerdings in der Gesamtheit des Christentums nicht viel verbessert. Die Kritikpunkte aus Hesekiel 34 lassen sich fast unverändert auf die Führungspersonen der Christenheit heute übertragen. Die Gläubigen erhalten von diesen „Hirten“ keine gute Nahrung und erfahren auch keine Bewahrung vor dem Feind.

Wenn wir dies feststellen, müssen wir uns gleichzeitig fragen, wie es in unserem Verantwortungsbereich, in unseren Versammlungen aussieht. Der örtliche Hirtendienst liegt hier in unserer Verantwortung als Geschwister am Ort.

  • Sorgen wir dafür, dass die Geschwister die notwendige geistliche Nahrung erhalten?
  • Führen wir sie auf dem richtigen Weg und kümmern wir uns um sie, wenn sie vom Weg abzuweichen drohen?
  • Helfen wir denjenigen, die in Not sind (und hier ist nicht nur geistliche, sondern auch praktische Not gemeint) und trösten wir sie?
  • Schützen wir die Geschwister vor bösen Angriffen, sofern dies für uns möglich ist?

Wir wollen die „Herde Gottes“, die der Herr uns anvertraut hat, weiden und hüten. Nicht wie ein Gefängnisaufseher, sondern als „Vorbilder der Herde“, und so lange, bis der Herr Jesus, der Erzhirte offenbar geworden ist (1. Pet 5,2-4). Es darf nicht so sein, dass an unserem Heimatort der Herr das Urteil fällen muss, dass die Christen dort auch sind wie Schafe, die keinen Hirten haben.

 


FN 1: Es fällt auf, dass Ahab, obwohl er verantwortlich für die Einführung des zidonischen Baals- und Aschera-Götzendienstes war (1. Kön 16,31-33), er doch offensichtlich einiges aus dem Gesetz wusste. So fällt zum Beispiel auf, dass er es nicht wagte, Nabot einfach per Dekret zu enteignen, oder dass er seinen Kindern Namen gab, in denen der Name Gottes vorkommt (Ahasja, Joram, Athalja).

FN 2: Es gibt keine offiziell angestellten Ältesten oder Aufseher mehr (weil es keine Apostel mehr gibt, um sie anzustellen), wohl aber Männer mit geistlicher Autorität, die die Qualifikationen haben und die Aufgaben von Hirten wahrnehmen.

FN 3: Prophetisch wird diese Zeit durch die im Sendschreiben an Thyatira geschilderten Zustände gekennzeichnet. Die Parallelen zur Zeit Ahabs sind offensichtlich, man beachte hier insbesondere die Erwähnung des Götzendienstes, der durch Isebel eingeführt wurde (Off 2,20).

Arne Linder

Einordnung: Im Glauben leben, Jahrgang 2021, Heft 11, Seite 11

Bibelstellen: 4. Mose 27,17; Psalm 23; 78,72; 1. Samuel 16,11; 17,28.34.35; Hesekiel 34; u.a.;

Stichwörter: Hirte, Hirtendienst, Nahrung, Schafe, Weide