Der jüdische Überrest in der großen Drangsal
Matthäus 24,15-28
Der Zusammenhang
Die Kapitel 24 und 25 des Matthäusevangeliums werden als prophetische Endzeitrede bezeichnet. Allerdings spricht der Herr Jesus in diesen beiden Kapiteln nicht nur über die Endzeit, sondern teilweise auch über die jetzige Zeit. In seiner Rede behandelt Er nämlich drei Themen:
- die Ereignisse in Verbindung mit dem jüdischen Volk in der Endzeit (Kap. 24,4-44),
- das christliche Bekenntnis während der jetzigen Zeit in Form von drei Gleichnissen (Kap. 24,45 bis Kap. 25,30),
- das Gericht über die Nationen bei der Erscheinung Christi (Kap. 25,31-46).
Diese Einteilung kann man auch daran erkennen, dass der Herr sich im ersten und letzten Abschnitt „Sohn des Menschen“ nennt (Kap. 24,27.30.37.39.44; 25,31), nicht aber im mittleren Teil, in dem Er vom christlichen Bekenntnis spricht. Als Sohn des Menschen wird Er einmal Richter und Herrscher sein (Joh 5,27; Heb 2,6.7). Aber seine Beziehung zu den Gläubigen der Gnadenzeit ist eine völlig andere, innigere. Deshalb kommt der Titel „Sohn des Menschen“ unter all den herrlichen Namen Christi in den Briefen des Neuen Testaments außer in einem Zitat in Hebräer 2,6 nicht mehr vor.
Ein wichtiger Faktor in der zukünftigen Weltgeschichte sind diejenigen Juden, die in der Zeit nach der Entrückung der Versammlung an den Herrn Jesus glauben und Ihn als Messias erwarten werden. Sie werden den „gläubigen Überrest“ bilden. Damit ist der kleine Teil des gesamten jüdischen Volkes gemeint, der in der Zeit nach der Entrückung durch das Wirken des Heiligen Geistes zum Glauben an den kommenden Messias Israels kommen wird. Sie werden in der Zeit, in der der Antichrist über Israel herrscht und sich als Gott verehren lässt, sehr bedrängt und verfolgt werden. Denn der größere Teil des Volkes der Juden wird in dieser Endzeit dem Antichristen anhängen und einen Bund mit dem Haupt des römischen Reiches schließen (s. Jes 28,14-18; Dan 9,27a).
Der erste Abschnitt (Mt 24,1-14) bildet die Einleitung der Rede. Die dort angekündigte Zerstörung des Tempels in Jerusalem, die Erwähnung der „Vollendung des Zeitalters“ in Vers 3 und der Predigt des Evangeliums des Reiches in Vers 14 – das alles deutet darauf hin, dass der Herr Jesus in diesem Abschnitt über Themen spricht, die sich auf das Volk der Juden und seine Erscheinung in Herrlichkeit beziehen.
Der Gräuel der Verwüstung
Der Herr lenkt die Aufmerksamkeit seiner Jünger zunächst auf den für die gläubigen Juden furchtbarsten Höhepunkt der Endzeit. „Wenn ihr nun den Gräuel der Verwüstung, von dem durch Daniel, den Propheten, geredet ist, stehen seht an heiligem Ort – wer es liest, beachte es -, dann sollen die, die in Judäa sind, in die Berge fliehen“ (Mt 24,15). Im Buch des Propheten Daniel wird an verschiedenen Stellen ein Gräuel erwähnt (Dan 9,27; 11,31; 12,11). Nur in Daniel 12 wird von einem „verwüstenden Gräuel“ in der Endzeit gesprochen (Kap. 11,31 bezieht sich auf Antiochus Epiphanes im 2. Jahrhundert v. Chr.). Dieser entspricht dem „Gräuel der Verwüstung“ von Matthäus 24,15. Wir befinden uns hier in den letzten dreieinhalb Jahren der siebzigsten „Jahrwoche“ Daniels, wie der Ausdruck „eine Zeit, Zeiten und eine halbe Zeit“ in Daniel 12,7 zeigt. Diese dreieinhalb Jahre kehren im Buch der Offenbarung als 1260 Tage (Off 11,3; 12,6), als 42 Monate (Off 11,2; 13,5) und als eine Zeit, Zeiten und eine halbe Zeit (Off 12,14) wieder, und zwar in Verbindung mit der Drangsal des jüdischen Volkes und der Herrschaft des Römischen Reiches. In dieser Zeit wird der Herrscher des Römischen Reiches seinen Bund mit den ungläubigen Juden unter der Führung des Antichristen dazu missbrauchen, das beständige Opfer im Tempel abzuschaffen (Dan 9,27; 12,11). Am Ende dieser Zeit wird der Herr Jesus erscheinen und sowohl das Haupt des Römischen Reiches als auch den Antichristen, den falschen Propheten, besiegen.
Der „Gräuel der Verwüstung … an heiligem Ort“, von dem der Herr Jesus spricht, wird möglicherweise das sprechende Bild des römischen Herrschers sein, das dann von allen angebetet werden muss. Vielleicht ist damit auch der Antichrist gemeint, der sich selbst in den Tempel setzt und sich als Gott verherrlichen lassen wird (2. Thes 2,4; Off 13,14.15). Mit dem heiligen Ort ist der in der Zeit des Antichristen wieder aufgebaute Tempel in Jerusalem gemeint.
Kann man sich einen schrecklicheren Gräuel und eine größere Verwüstung des Glaubens an den allein wahren Gott vorstellen, als dass ein falscher Prophet sich als Christus ausgibt und sich im Tempel in Jerusalem darstellt, als ob er Gott sei? Und doch wird die Masse des jüdischen Volkes dieser Verführung erliegen, wie der Herr Jesus vorausgesagt hat: „Ich bin in dem Namen meines Vaters gekommen, und ihr nehmt mich nicht auf; wenn ein anderer in seinem eigenen Namen kommt, den werdet ihr aufnehmen“ (Joh 5,43).
Die „Drangsal für Jakob“
Der Herr Jesus fügt seinen Worten die Bemerkung hinzu: „Wer es liest, beachte [oder: verstehe] es.“ Er sah also voraus, dass es viele geben würde, die seine Worte nicht richtig verstehen. Viel Verwirrung ist durch die Nichtbeachtung des Grundsatzes entstanden, „dass keine Weissagung der Schrift von eigener Auslegung ist“ (2. Pet 1,20). Unter anderem an folgenden Punkten ist zu erkennen, dass die hier beschriebenen Ereignisse sich nicht auf die gegenwärtige Zeit beziehen können, sondern nur auf die Zeit nach der Entrückung.
- Es gibt während der christlichen Periode auf der Erde keinen von Gott anerkannten „heiligen Ort“. Der Tempel in Jerusalem, der so bezeichnet wird, existiert bereits seit 1900 Jahren nicht mehr, wird aber in der Zeit des Antichristen wieder aufgebaut sein. Der Bezug zum Judentum ist also offensichtlich. Ebenso ist es mit der Erwähnung der Landschaft Judäa (V. 16) und des Sabbats (V. 20). Es sind rein jüdische Begriffe, die sich nicht auf die Zeit des Christentums beziehen. Damit kommen wir zu einem sehr wichtigen Kriterium für das Verständnis vieler Bibelstellen: Überall da, wo das Volk der Juden als solches in der Schrift anerkannt wird, muss es sich um die Zeit vor oder nach der Gnadenzeit handeln. Denn in der jetzigen Zeit gibt es nach Gottes Gedanken keinen Unterschied zwischen Juden und Nationen. Alle sind von Natur Sünder, alle müssen sich zum Herrn Jesus bekehren und sind als Gläubige alle durch einen Geist zu einem Leib getauft (Röm 3,9; Apg 20,21; 1. Kor 12,13 u. v. a. Stellen).
- Aus 2. Thessalonicher 2,1-12 geht hervor, dass der Antichrist erst nach der Entrückung der Gläubigen auftreten wird. Gegenwärtig existieren auf der Erde noch zwei Hindernisse, die das Kommen des Antichristen „zurückhalten“: erstens das, „was zurückhält“, das ist die Versammlung, und zweitens derjenige, „der zurückhält“, das ist der Heilige Geist (V. 6 und 7). Erst wenn diese die Erde verlassen haben, ist der Weg frei für das Auftreten des Antichristen.
Die Zeit des Antichristen wird durch schreckliche Verfolgungen gekennzeichnet sein, die die gläubigen Juden betreffen, die auf den Messias warten (vgl. Off 13,15). Der Herr spricht hier von denen, die in Judäa, d. h., in unmittelbarer Nachbarschaft von Jerusalem wohnen, denn sie werden von dieser Drangsal am ersten und am stärksten betroffen sein. Deshalb werden sie aufgefordert, so schnell wie möglich in die unwegsamen Berge zu fliehen, wo sie vor der Wut des Feindes sicher sind. Wer sich auf dem Dach befindet, soll nicht ins Haus hinabsteigen, um noch irgendetwas zu retten, und wer auf dem Feld ist, soll nicht einmal wegen eines benötigten Kleidungsstücks zurückkehren (V. 17.18). Schwangerschaft und Mutterschaft, normalerweise trotz der damit verbundenen Schmerzen und Mühen Zeiten des Glücks und der Freude für die verheiratete Frau, stellen dann nur Hindernisse für eine schnelle Flucht mit ihren vielen Entbehrungen dar (V. 19). Deshalb denkt der Herr mit seinem „Wehe“ voll Erbarmen an die schwangeren und stillenden Frauen in dieser Notzeit. Er fordert die Jünger außerdem auf, dafür zu beten, dass die Flucht nicht im Winter oder am Sabbat stattfindet (V. 20). Der von Regen und Kälte gekennzeichnete Winter in Israel wird ein ebenso großes Hindernis bei der Flucht in die Berge sein wie der jüdische Ruhetag, an dem es nach der Auslegung der Rabbiner nur erlaubt war, eine kurze Strecke, einen „Sabbatweg“, d. h., ungefähr einen Kilometer, zu gehen (vgl. Apg 1,12). Die Erwähnung des Sabbats an dieser Stelle ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Herr hier nicht von Christen spricht, sondern von Juden, die den Sabbat, den siebten Tag der biblischen Woche, als Tag der Ruhe beachten. Der christliche „Feiertag“ ist dagegen der Sonntag, der erste Tag der Woche, der im Neuen Testament auch „Tag des Herrn“ genannt wird.
In Vers 21 gibt der Herr Jesus die Erklärung für seine Warnungen: „Denn dann wird große Drangsal sein, wie sie seit Anfang der Welt bis jetzt nicht gewesen ist und auch nicht wieder sein wird.“ Schon Daniel hatte sie vorausgesagt: „Und in jener Zeit wird Michael aufstehen, der große Fürst, der für die Kinder deines Volkes steht; und es wird eine Zeit der Drangsal sein, wie sie nicht gewesen ist, seitdem eine Nation besteht, bis zu jener Zeit“ (Dan 12,1). Diese Drangsal¹ werden der Antichrist und der Herrscher des Römischen Reiches dem gläubigen Teil des jüdischen Volkes, dem Überrest, bereiten, weil sie das Bild des Tieres nicht anbeten und sein Zeichen nicht an ihre Stirn oder Hand annehmen, sondern dem wahren Gott dienen wollen (vgl. Off 13,15-17).
Diese Drangsal wird nur eine bestimmte Zeit dauern, nämlich höchstens dreieinhalb Jahre. Das ist wohl mit den Worten des Herrn gemeint: „Und wenn jene Tage nicht verkürzt würden, so würde kein Fleisch errettet werden; aber um der Auserwählten willen werden jene Tage verkürzt werden“ (V. 22). Wenn die Verfolgung länger dauerte, dann würden auch die Auserwählten darin umkommen! Außer dem Antichristen, der auch der falsche Prophet genannt wird (Off 19,20), werden in jener Zeit noch verschiedene andere Personen auftreten, die sich Christus oder Prophet nennen (V. 23-26). Sie tragen die gleichen Kennzeichen wie der große jüdische Verführer, dem die Masse des Volkes anhängen wird, aber sie treten offenbar mit der Absicht auf, auch die Auserwählten zu verführen, die die Person des Antichristen durchschaut haben und vor ihm fliehen. Diese Werkzeuge des Teufels, die sich Christus nennen und große Zeichen und Wunder der Lüge vollbringen, müssen wir von den Antichristen unterscheiden, von denen Johannes schreibt (1. Joh 2,18 ff.; 4,3; 2. Joh 7). Alle haben zwar gemeinsam, dass sie die Person unseres Herrn als Sohn Gottes und als Christus, d. h., als Messias leugnen. Aber jeder dieser falschen Christi der Endzeit wird zusätzlich die gotteslästerliche Behauptung aufstellen, dass er der wahre Christus ist. Vor diesen Verführern hatte der Herr bereits in Vers 5 gewarnt, und Er tut es hier nochmals mit großem Nachdruck.
Die Erscheinung des Sohnes des Menschen
Die Not und Drangsal des gläubigen Überrests der Juden wird jedoch ihr Ende finden. Wenn der Herr dann in Herrlichkeit erscheinen wird, wird Er sich nicht erst zu erkennen geben, wenn er mit seinen Füßen auf der Erde stehen wird. Er vergleicht daher seine Erscheinung mit dem Leuchten des Blitzes, der den von Gewitterwolken verdunkelten Himmel schlagartig und strahlend hell erleuchtet: „Denn ebenso wie der Blitz ausfährt vom Osten und leuchtet bis zum Westen, so wird die Ankunft des Sohnes des Menschen sein“ (V. 27). Wenn Er mit Macht und Herrlichkeit in Begleitung der Engel und der verherrlichten Gläubigen vom Himmel herabkommen wird, wird jedes Auge Ihn sehen. Niemand braucht dann noch auf dieses Ereignis hingewiesen zu werden. Es wird kein Zweifel mehr möglich sein.
Der Herr sagt hier, dass der Blitz vom Osten her scheint. Die Eingänge zum Zelt der Zusammenkunft und zum Tempel waren nach Osten gerichtet. Aus dieser Himmelsrichtung wird der Herr sich Jerusalem und dem Tempel nähern, wenn Er erscheinen wird. In Sacharja 14,4 heißt es, dass seine Füße an jenem Tag auf dem Ölberg stehen werden, „der vor Jerusalem im Osten liegt“, und Hesekiel weissagte: „Und die Herrlichkeit des HERRN kam in das Haus, den Weg des Tores, das nach Osten gerichtet war“ (Hes 43,4).
Die Erscheinung des Herrn als Sohn des Menschen, d. h., als der von Gott eingesetzte Erbe aller Dinge (vgl. Ps 8), wird ebenso wie einige Jahre vorher die Entrückung derart unerwartet stattfinden, dass keine Möglichkeit mehr zur Warnung besteht. Für alle Ungläubigen bringt dieses Kommen plötzliches Verderben mit sich (vgl. 1. Thes 5,3). Das kommt in den letzten Worten dieses Abschnitts zum Ausdruck: „Wo irgend das Aas ist, da werden sich die Adler versammeln“ (V. 28). Während uns das Kommen des Herrn zur Entrückung der Gläubigen immer als eine lebendige und glückselige Hoffnung vorgestellt wird, ist es bei seiner Ankunft als verherrlichter Sohn des Menschen anders. Dieses Kommen ist nämlich mit Gericht verbunden. Das Aas, ein toter Körper, ist hier das Bild des abtrünnigen Volkes Israel, das sich willig dem Antichristen gebeugt hat. Die Adler sind der Ausdruck des vom Himmel kommenden, alles verzehrenden Gerichts Gottes. In den Versen 37-39 geht der Herr dann nochmals auf das plötzliche Gericht ein.
Könnten die Worte „Wo irgend das Aas ist, da werden sich die Adler versammeln“ auf das Kommen des Herrn zur Heimholung der Seinen hindeuten? Das wäre wirklich ein verfehltes Bild! Nein, hier handelt es sich nicht um die Erfüllung der Verheißung für die Gläubigen der jetzigen Zeit, sondern um die Ankunft des Sohnes des Menschen in Herrlichkeit und das damit verbundene Gericht für die Ungläubigen.
FN 1: Die in Off 7,14 erwähnte „große Drangsal“ bezeichnet dagegen die von Gott kommenden Strafgerichte über die gottlosen Nationen. Obwohl der gleiche Ausdruck benutzt wird, besteht ein Unterschied.
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